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Johannes Schillo: Was sein muss, muss sein

Von • Jan 11th, 2021 • Kategorie: Allgemein

Johannes Schillo: Was sein muss, muss sein

 

Heidegger und die faschistische Konsequenz der Philosophie

 

Der NS-Philosoph Martin Heidegger ist und bleibt eine anerkannte deutsche Geistesgröße – auch wenn dank diverser Enthüllungen seine Person heute etwas kritischer gesehen wird. Mit seiner Philosophie, die im akademischen Betrieb ihren Ehrenplatz hat, wird nach wie vor ganz selbstverständlich zur Pflege des kulturellen Erbes oder zur Erschließung neuer Perspektiven hantiert, ohne dass der persönliche Beitrag des Mannes zum NS-Regime groß stören würde.

Da gibt es heutzutage Philosophieren „Mit Marx für Heidegger“ bzw. „Mit Heidegger für Marx“ oder eine feministische Heidegger-Lektüre. Ökologisch kann man den Mann auch sehen, daher muss an „Heideggers Umweltethos“ angeknüpft werden. Ja es wird sogar ganz realpolitisch auf der Suche nach einer „schwarz-grünen Erzählung“, die offenbar dringend gebraucht wird, von Experten eine Affinität der Grünen zu Heideggers Existenzphilosophie ins Spiel gebracht.

Dazu stellte Robert Habeck nach der Bundestagswahl 2013 interessiert und offen für Anregungen fest: „Technikskepsis und Sorge um die Erde verbänden die Grünen mit dem Denken Heideggers. Radikaler noch als Rousseau denkt Heidegger den Menschen als Teil einer Seinstotalität, die dem individuellen Dasein immer schon vorausgeht.“ (Die Zeit, 28.11.2013)

Dass man über Rousseau hinausgehen muss, meint auch der Grünen-Chef; man könne nicht ewig in einer zivilisations- oder industriekritischen Ecke hocken bleiben. Den Ahnherrn Heidegger findet Habeck nicht unbedingt toll, aber verwerfen will er diese Traditionslinie auch nicht, sie sei „nur ein Strang der grünen Ideengeschichte“. Ein bisschen schmücken kann man sich damit also schon, schließlich hatte man auch mal Ökofaschisten in den eigenen Reihen, und rechte Wähler wieder heimholen ist doch eine ehrenwerte Aufgabe?

Und natürlich kann man mit Heidegger – wer hätte bei einem Philosophen anderes erwartet – auch die aktuelle Lage in der Covid 19-Pandemie erklären. Der Rückgriff auf den Seinsphilosophen ermögliche es, schreibt etwa ein Autor auf dem Soziologieblog, „die aktuelle Krisis in ihrem Verlauf und ihren Folgen zu beschreiben“; auf diese Weise sollen vor allem „die Prozesse der Entnormalisierung und Renormalisierung im Verhältnis zu uns selbst und unserer Beziehung zu den Dingen“ sichtbar werden – mit dem Fazit: „Die Krisis der gewohnten Welt kann nicht nur als Gefahr, sondern auch als Chance gesehen werden“.

Dieser Allerweltsspruch von der Krise als Chance wird nur noch getoppt durch die Einsicht, die hier ermöglicht werden soll. Dank ihr bricht angeblich „die ‚Natürlichkeit‘ des Sozialen und der Dinge auf und lässt uns ihre Sozialität und deren Veränderbarkeit bewusst werden“. Genial! Die Atemmaske als Sinnbild dafür, dass wir ein neues „Zuhandensein“ der Dinge erfahren, wenn sie denn – dank der Initiative von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) – vorhanden sind. Und mit der Behauptung, dass die Maske irgendwie symbolischen Charakter hat, können sicher auch die Corona-Rebellen etwas anfangen.

 

Neurechter Aufbruch

Altmeister Heidegger

 

Die Analyse Deckers zielt also darauf, dass sich im Zentrum von Heideggers Philosophie durchaus Affinitäten zu einem Staatsprogramm finden, „das sich der Vorbereitung eines großen Krieges gewidmet und dafür auf Tugenden seiner Mannschaft Wert gelegt hat, die die fälligen Opfer bis hin zur Aufgabe des eigenen Lebens als sinnerfüllenden Dienst an einem übergeordneten Ganzen erscheinen lassen und nichts als diesen Lohn versprechen.“ (Ebd., 73) Damit – und das ist wohl das provozierendste Ergebnis von Deckers Analyse – hat man die Radikalisierung einer Idee vor sich, die alle Philosophen teilen. Also keinen Außenseiter, der auf Abwege geraten ist, sondern den „konsequentesten Philosophen des 20. Jahrhunderts“.

 

https://www.heise.de/tp/features/Was-sein-muss-muss-sein-5005621.html?seite=all

 

vgl:

 

Peter Decker: Martin Heidegger

Der konsequenteste Philosoph des 20. Jahrhunderts – Faschist

 

Der kritische Geist in Feuilleton und Wissenschaft hat gefunden, wonach er suchte: astreine Bekenntnisse zur NS-Propaganda von Volk und Führer, Rasse und Opfertum, die den großen Denker als Faschisten entlarven. Einer, der unter Bildungsmenschen einiges gilt, verliert seine Glaubwürdigkeit – nur weil auf verehrungswürdige Geistestraditionen erpichte Anbeter von Gedanken, die sie – nein, nicht für korrekt, sondern – für groß halten, über eines erschrecken: Wenn sie merken, dass ein „großer Denker“ an dem Sündenfall der nationalen Geschichte mitgewirkt hat.

Über die Philosophie Heideggers scheint sich nach wie vor niemand aufzuregen. Philosophieprofessoren, seien sie nun Anhänger bzw. Schüler von ihm, seien sie nur Interpreten, die sich begabt und gelehrt genug wähnen, ihn zu „verstehen“, ist an den Lehren des „Seinsphilosophen“ nichts Anstößiges aufgefallen. Und insofern ist das bisschen Aufregung über die Mitteilungen im Buch von Víctor Farías, „Heidegger und der Nationalsozialismus“ (1987), gar nicht verwunderlich. Wer will sich schon gerne nachsagen lassen, einem leibhaftigen Komplizen des Faschismus Größe zu attestieren? Wer nimmt schon gerne zur Kenntnis, dass die „großen“ ethischen, kosmologischen und metaphysischen Fragen, die er bei Heidegger mit Respekt genießt, vereinbar sind mit einigem, was jedem Ethiker als Böses geläufig ist? Es ist, als ob die Gemeinde der philosophischen Tradition mit dem Verdacht befasst ist, dass ihre Geistesverwandtschaft mit Heidegger, auf die sie sich sonst einiges zugutehält, nun – nach der „Enthüllung“ – ein schlechtes Licht auf ihre ureigensten philosophischen Neigungen werfen könnte.

Nachgegangen wurde diesem Verdacht indes kaum. Die Trennung zwischen dem Denker und dem Menschen, der „politisch irrte“, tut nach wie vor gute Dienste. Zumal die Behauptung, Heideggers Ideengut erfülle den Tatbestand einer „faschistischen Philosophie“, eines sicher nicht auf ihrer Seite hat: den Beweis, dass „Sein und Zeit“ ein braunes Parteiprogramm darstellt.

Dennoch ist die so abwegig erscheinende Verleihung des Prädikats „faschistisch“ an die Philosophie des Schwaben durchaus nichts Irrationales. Wer weiß, und beim Studium von Heidegger ist das kaum zu übersehen, dass er es nicht mit Parteiparolen, sondern eben mit Philosophie zu tun hat; wer darüber hinaus weiß, wie die politische Logik der Faschisten geht – und die beginnt nicht beim Antisemitismus, sondern fordert ihn als Konsequenz ganz anderer, auch jedem Demokraten geläufiger Gedanken über Gott-Staat-Mensch –, vermag durchaus zu entdecken, dass Philosophie und politischer Faschismus sehr wesentlich miteinander zu tun haben.

 

Allerdings nicht nur die Philosophie Heideggers. Davon handelt die vorliegende Schrift. Sie erklärt nicht nur ein paar der allergrundsätzlichsten Ideen des in Verruf gekommenen Sprachkünstlers, sondern auch die Liebe echt „demokratischer Philosophie“ zu ihm. Letztere sucht auch keinen anderen Sinn, wenn sie über Glück und Tugend, Irrtumsmöglichkeit und Wahrheit, Staat und Mensch elitär schwadroniert. Von der allseits geachteten christentümlichen Philosophie ganz zu schweigen.

 

https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/martin-heidegger

 

https://de.gegenstandpunkt.com/sites/default/files/buch/werbung/heid_inhaltsverz.pdf

6 Responses »

  1. Johannes Schillo: Vom faschistischen Geist der Philosophie – Der Fall Heidegger

    Der NS-Philosoph Martin Heidegger war im Nachkriegsdeutschland, Abt. West, eine anerkannte Geistesgrösse – und ist es eigentlich immer noch, auch wenn seine Person heute etwas kritischer gesehen wird.

    https://www.untergrund-blättle.ch/politik/theorie/der-fall-martin-heidegger-vom-faschistischen-geist-der-philosophie-6176.html

  2. Sein zum Faschismus
    Eine anerkannte deutsche Geistesgröße, leider nur etwas reaktionär. Über Martin Heidegger und das neue Interesse an seiner Philosophie
    Von Johannes Schillo

    Der Philosoph Martin Heidegger ist und bleibt eine anerkannte Geistesgröße – auch wenn dank diverser Enthüllungen seine Person heute etwas kritischer gesehen wird. Mit seiner Philosophie, die im akademischen Betrieb der BRD einen Ehrenplatz einnimmt, wird immer noch ganz selbstverständlich hantiert, zur Pflege des kulturellen Erbes oder zur Erschließung neuer Perspektiven, ohne dass der persönliche Beitrag des Mannes zum Faschismus groß stören würde.

    Im Gegenteil, vom konservativen Feuilleton wird er nach wie vor als zentrale Inspirationskraft des Geisteslebens im 20. Jahrhundert gefeiert: »Als ein scharfer Windstoß brach Heidegger Anfang der zwanziger Jahre in die Philosophie ein, als einer, der sie mitten in der Windstille des Systems an das ›Sein zum Tode‹ erinnerte und an einen Ernst der Endlichkeit.« (FAZ, 24.1.2020). Gerade in der Zeit der schweren Not, in die das Coronavirus die Menschheit gebracht hat, sollen seine Überlegungen entscheidende Hilfestellung bieten: Sie offerieren – Überraschung! – die Krise als Chance, nämlich für reaktionäres philosophisches Gelaber.

    Das »Sein zum Tode«

    »Das Coronavirus fordert nicht nur viele Menschenleben, es wird auch sehr viel philosophischen Unsinn hervorbringen«, stellte das Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung erstaunlich hellsichtig und unübertrefflich zynisch bereits im Frühjahr 2020 fest (am 16. April). Der Fall ist eingetreten, philosophiert wird angesichts der schwierigen Zeit mit Hochdruck. Aber die Warnung des Feuilletonisten war gar nicht ernst gemeint, sie galt nur dem neuen philosophischen Gelaber, nicht dem altehrwürdigen, das seinen festen Platz in der deutschen bzw. abendländischen Geistesgeschichte hat.

    Der NZZ-Autor wartet sogleich mit folgendem Angebot auf: »Die grundsätzliche Kondition des Menschen ist bekanntermaßen die: Er muss sich dem Tod stellen. Das klingt nach Heidegger, aber diese Grundkonstellation ist nicht seine Erfindung, und trotzdem hat Heidegger für uns eines getan, was wir heute gut gebrauchen können: Er hat sich – irgendwie phänomenologisch – hinter den Menschen gestellt, ihn verteidigt in seiner Zeitidentität, die stets aktuell ist.« Schon gewusst, wir müssen alle mal sterben? Nur: Haben wir das auch schon »irgendwie phänomenologisch« bedacht? Oder uns bloß darüber geärgert? So wie Mitch Ryder in seinem berühmten Antikriegssong: »I don’t want to die, I’ve got plans for tonight«.

    Zum Bedenken soll uns jetzt Corona mahnen, wenn man die Zeit dafür opfern will. Doch kann sich jede und jeder am angesagten Tiefsinn beteiligen? Mit dem elitären Seinsgeschwafel aus der Heidegger-Schule ist man laut NZZ bestens bedient. Wenn man über seine »Zeitidentität« informiert ist, habe man nämlich das Wichtigste erfasst, denn, so heißt es weiter: »Das ist schon die halbe Miete, was unser Dasein angeht: Wir brauchen für unser Leben und unser Sterben sehr viel Zeit und eigentlich sehr wenig Raum.« Was die Seinsphilosophie so alles herausfindet, Raum und Zeit braucht man fürs Sterben, aber mit Mengenunterschied! Der Tod findet beispielsweise noch in der kleinsten Hütte Platz. Wer das nicht bedenkt, stirbt möglicherweise einfach so vor sich hin, ohne philosophischen Durchblick.

    Wer aber Interesse an solchem flachen Tiefsinn zu Raum und Zeit hat, kann im Züricher Weltblatt weiterlesen. Dabei muss man nur einen – irgendwie heiklen, doch im hiesigen Geistesleben obligatorischen – Punkt bedenken. Der Autor unterbricht nämlich seine Heidegger-Eloge und bringt recht unvermittelt etwas anderes zur Sprache: »Heideggers Antisemitismus ist mir natürlich unerträglich, und heute können wir über den Meisterlehrer von Hannah Arendt und Jeanne Hersch, zwei genialen Frauen jüdischer Herkunft, so unbefangen sprechen, aber eigentlich ist Heidegger unerträglich, weil er ein Antisemit war. Er hat sich nicht nur mit den Nazis arrangiert.« Nachdem diese Pflichtübung der deutschen Vergangenheitsbewältigung, die man »natürlich« auch in der Schweiz kennt, erledigt ist, kann der Autor munter fortfahren: »Und trotzdem: Ich lese sehr gerne seine ›Holzwege‹.«

    Heidegger für jedermann

    So einfach geht das also, auch noch im Jahr 2020, obwohl zahlreiche Dokumente und Selbstauskünfte zum Naziphilosophen Heidegger (1889–1976) vorliegen. Im Frühjahr 1933 trat er in die NSDAP ein, nachdem er mit der Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg seine Treue zu deren Programm bewiesen hatte. Den Machtantritt Hitlers bezeichnete er als »Unvergleichlichkeit der Weltstunde«, die er in seinen philosophischen Entwürfen vor 1933 »irgendwie« vorausgeahnt oder herbeigesehnt hatte. Zum Jahreswechsel 1931/32 berichtete ein Student von einer Begegnung mit Heidegger, der mittlerweile, wie die Gattin, stramm rechts sei, obwohl er eigentlich »nicht viel von Politik« verstehe: »So lässt ihn wohl wesentlich sein Abscheu vor aller mittelmäßigen Halbheit von der Partei etwas erhoffen, die etwas Entschiedenes zu tun und damit vor allem dem Kommunismus wirksam entgegenzutreten verspricht.«¹

    Er blieb NSDAP-Mitglied bis 1945 und legte auch danach nie ein Schuldbekenntnis ab, rechtfertigte noch im Adenauer-Staat mit der genannten antikommunistischen Einschätzung seine Parteinahme für die NSDAP. 1947 wurde ihm zwar von den französischen Besatzungsbehörden die Lehrbefugnis entzogen, allerdings 1950 wieder erteilt, worauf er bis 1967 Seminare für einen Kreis von Hörern in Freiburg abhielt. »Mit der Emeritierung (1952) erhielt Heidegger seine Rechte als Professor zurück. Sogleich kündigte er eine Vorlesung an und las im Wintersemester erstmals wieder in der Freiburger Universität. Seine Vorlesungen hatten großen Zulauf und lösten, wie auch seine Schriften, ein breites Echo aus«, ist in der Online­enyzklopädie Wikipedia zu lesen.

    Natürlich kann man mit Heideggers Philosophie – dank ihres Abstraktionsgrades – alles Mögliche anstellen, und die Wirkungsgeschichte deckt daher auch ein breites politisches Spektrum von rechts bis links ab. Für letzteres steht als prominenter Fall der französische Philosoph Jean-Paul Sartre, der aus Heideggers Seinsphilosophie seinen eigenen Existentialismus extrahierte. Derartiges wird heutzutage unermüdlich fortgesetzt, so gibt es Philosophieren »Mit Marx für Heidegger« bzw. »Mit Heidegger für Marx«, es gibt einen russischen Heidegger-Schüler, der Putin berät, oder, auch in Kreisen der Grünen-Partei gefragt, ein Anknüpfen an »Heideggers Umweltethos«. Hier soll der schwäbische Denker in Gestalt seines Schülers Hans Jonas, Autor der biophilosophischen Tiefenbohrung »Prinzip Verantwortung«, sogar eine jüdische Philosophie des 20. Jahrhunderts auf den Weg gebracht haben.

    Ja, es wird sogar real- und machtpolitisch auf der Suche nach einer »schwarz-grünen Erzählung«, die offenbar dringend gebraucht wird, von Experten eine Affinität der Grünen zu Heideggers Existenzphilosophie ins Spiel gebracht. Dazu hielt 2013 nach der Bundestagswahl Robert Habeck, der sich schon als Student in die Werke Heideggers vergrub, interessiert und offen für Anregungen zur Neuaufstellung seiner Partei in einem Gastbeitrag fest, dass »Technikskepsis und Sorge um die Erde die Grünen mit dem Denken Heideggers (verbänden). Radikaler noch als Rousseau denkt Heidegger den Menschen als Teil einer Seinstotalität, die dem individuellen Dasein immer schon vorausgeht.« (Die Zeit, 28.11.2013) Dass man über Rousseau hinausgehen muss, meinte auch der Grünen-Hoffnungsträger; man könne nicht ewig in einer zivilisations- oder industriekritischen Ecke hockenbleiben. Den Ahnherrn Heidegger fand Habeck nicht unbedingt optimal, aber verwerfen wollte er diese Traditionslinie auch nicht, sie sei »nur ein Strang der grünen Ideengeschichte«. Ein bisschen schmücken kann man sich damit also schon, schließlich hatte man auch mal Ökofaschisten in den eigenen Reihen, und rechte Wähler wieder »heimholen« ist doch eine ehrenwerte Aufgabe. Oder nicht?

    Ein faschistisches Opus

    Im deutschen Wissenschafts- und Kulturbetrieb ist natürlich mittlerweile klar, dass Heidegger ein bekennender Faschist war, schließlich sind seit Ende des 20. Jahrhunderts einschlägige Dokumente veröffentlicht worden, die diese Haltung belegen. Dementsprechend hat sich der hiesige Modus der Reinwaschung etwas geändert. Wurde die faschistische Einstellung des Philosophen früher ignoriert, dann als biographisches Randproblem abgetan, so muss heute – siehe das pflichtgemäße Bekenntnis des NZZ-Autors – zuerst eine strikte Trennung von Person und Werk vorgenommen werden, um letzteres dann hochleben zu lassen.

    In jüngster Zeit, mit dem Erstarken der AfD, der Ausbreitung eines Rechtspopulismus, dem Aufkommen neuer Protestformen à la »Identitäre Bewegung« und der Etablierung rechter Thinktanks, kommt ein neues Moment hinzu: Heidegger wird immer deutlicher zur Berufungsinstanz der modernen extremen Rechten.² »Was macht Heideggers Denken so attraktiv für die antidemokratische Rechte?« fragt etwa der emeritierte Professor Micha Brumlik und kommt zu dem Schluss, dass Heideggers frühes Jahrhundertwerk, das 1927 erschienene, als Markstein der Existenzphilosophie hochgelobte Buch »Sein und Zeit«, auch als »Inbegriff einer völkischen Philosophie gelten« dürfte.³

    Einen solchen Angriff auf Heideggers Philosophie, also auf die Sache, für die der Mann als erstes steht und für die er sich – über die verschiedenen Regimes hinweg – ein Leben lang engagiert hat, findet man sonst kaum. Explizit vertreten und in deutschen Universitäten bekanntgemacht hat eine solche Kritik die damalige Marxistische Gruppe (MG), die 1988 »Martin Heidegger – Der konsequenteste Philosoph des 20. Jahrhunderts – Faschist« vorlegte. Diese Schrift von Peter Decker ist jetzt in einer aktualisierten Ausgabe neu aufgelegt worden.⁴ Sie bezieht sich am Rande auf die damals neueren Erkenntnisse, nach Victor Farias’ Buch »Heidegger und der Nationalsozialismus« vor allem auf die Veröffentlichung von Heideggers »Schwarzen Heften«. In diesen hat sich der »heimliche König« (Hannah Arendt) der Philosophie unmissverständlich zu seinem seinsgeschichtlichen Antisemitismus geäußert, was dann zum Skandalon geriet, denn im heutigen Deutschland wird Faschismus erst richtig zum Problem, wenn er Judenvernichtung im Programm hat.

    Auch hier gab es Versuche, Heideggers Position zu retten. So hieß es, das »Weltjudentum« sei bei ihm – parallel zum Amerikanismus oder Bolschewismus – nur eine Erscheinungsform von etwas Tieferliegendem, nämlich der »Seinsvergessenheit« des modernen Menschen, und nichts platt Politisches. Diese umstandslose Rehabilitierung von Naziphilosophie kommt heute fast nur noch aus der rechtsextremen Ecke. Doch muss man ihr zugestehen, dass sie einen entscheidenden Punkt trifft: Die Seinsphilosophie des schwäbischen Denkers bewegt sich auf einer anderen Ebene als Programm und Parolen der Nazis, sie löst sich nicht einfach in deren opportunistische Befürwortung oder Ausschmückung auf, wie es für den deutschen Wissenschaftsbetrieb nach 1933 selbstverständlich war (und was dann nach 1945 schnurstracks vom selben Personal widerrufen wurde, ohne dass man den Professoren groß mit Entnazifizierung oder Reeducation kommen musste und ohne dass die ihre alten Lehrbücher umschreiben mussten).

    Deckers fulminante Streitschrift zielt genau auf diesen ideellen Kern. Die Neuauflage wurde um einen Anhang erweitert, der exemplarisch zeigt, dass es in Westdeutschland einmal eine elaborierte marxistische Kritik der bürgerlichen Wissenschaft gegeben hat. Der Autor nimmt also nicht die persönlichen Verwicklungen ihres Urhebers in Nazimachenschaften, sein Agieren in Politik oder Hochschule, ins Visier. Heideggers Politpräferenzen und Lebensumstände sind für ihn nur ein Indiz, das nach weiterer Klärung verlangt, und nicht wie üblich der Anlass, um mehr oder weniger verständnisvoll den Kern seiner philosophischen Bemühungen von den zeitbedingten Kontaminationen zu reinigen und so letztlich den Ruf dieses Denkers zu retten.

    Du bist nichts, das Sein ist alles

    Es geht Decker um den philosophischen Gehalt des Heideggerschen Opus, um den hier vorliegenden radikalen Fall von Sinnstiftung, der die Konsequenz aus den Bemühungen der Vorläufer zieht und Philosophie als respektable Instanz von Gegenaufklärung und Antiwissenschaft etabliert. Untersucht werden daher nicht speziell – wie etwa bei Brumlik (der sich auf den berüchtigten Paragraphen 74 von »Sein und Zeit« mit seinen völkischen Ideen konzentriert) – die Kategorien einer politischen Philosophie. Heideggers Abstraktionsleistung, eine Trivialität namens »das Sein«, d. h. die Sub­stantivierung eines Verbs, in den Mittelpunkt zu stellen und damit ein unüberbietbares Universelles zu finden, lässt ja sowieso die klassische Aufteilung des Fachs in diverse Abteilungen hinter sich. Diese hielt bei den früheren Philosophen den Schein der wissenschaftlichen Bearbeitung eines Gegenstandes aufrecht, Heidegger dagegen schreitet zielstrebig zur raunenden, wissensfeindlichen Beschwörung eines philosophischen Prinzips fort.

    Sein Anliegen ist es, eine unwidersprechliche höhere oder tiefere Notwendigkeit festzuhalten, der »der Mensch« sich unterzuordnen hat. »Als Philosoph will er von nichts Bestimmtem etwas wissen und ist sich gleichwohl – und nur so! – über die letztendliche Begründbarkeit und Wohlbegründetheit von allem sicher«, resümierte Decker. Dafür untersucht er im einzelnen, wie sich Heidegger den philosophischen Bedarf nach Sinnsuche erarbeitet, nämlich als systematische Absage an wissenschaftliches Denken überhaupt, und wie seine Abstraktionen zustande kommen, die die klassische Metaphysik überbieten und das Sinnbedürfnis in Reinform kultivieren: als Behauptung der Notwendigkeit, das eigene »Geworfensein« angesichts schwerer Zeiten auszuhalten – nicht weil es dafür höhere Werte (Gott, Glückseligkeit, ewiger Frieden) gäbe, sondern weil die Bestimmung des Menschen im Aushalten der Seinsgesetzlichkeit bestehe.

    Das ist auch erkennbar der Ausgangspunkt seiner philosophischen Bemühungen, die sich oft in sprachliche Schwurbeleien verlaufen. Im ersten Paragraphen von »Sein und Zeit« heißt es: »Die Undefinierbarkeit des Seins dispensiert nicht von der Frage nach seinem Sinn, sondern fordert dazu gerade auf.« Die Kategorie Sinn ist also klar unterschieden von Bestimmungen oder Eigenschaften, die eine Sache hat und deren Herausarbeitung Aufgabe der Wissenschaften wäre – eine schnöde Aufgabe, die vom philosophischen Hinterfragen weit hinter sich gelassen wird. Beim Sinn handelt es sich um einen Wert, den der Philosoph einer Sache jenseits von ihren Eigenschaften beimisst; den er als etwas statuiert, worauf es eigentlich (laut Adornos »Jargon der Eigentlichkeit« das Zauberwort der Seinsphilosophie) ankommen soll, im Gegensatz zu allem, was an einer Sache interessieren könnte.

    Der Sinn liegt natürlich nicht in der Hand der Subjekte, er ist vorgegeben. Decker hält fest, dass so die faschistische Selbstaufopferung, der Kampf um die bloße Existenz mit soldatischem Ethos, als die Erfüllung des Daseins »entworfen« wird. Decker: »Das Aufgehen des Individuums in einer es übersteigenden Kampfgemeinschaft, die das Opfer echt lohnend macht, das ist die endgültige Lösung der Sinnfrage.« Dem »Sein zum Tode« habe der Mensch sich zu stellen, »im Vorlaufen zum unbestimmt gewissen Tode« sein Leben zu vollziehen, wie es in »Sein und Zeit« (Paragraph 53) heißt. So wird die Apotheose der Bereitschaft zum Tode aus den abstraktesten Bestimmungen herausdestilliert (und Deckers Bemerkung zum »lohnenden« Opfer ist hier natürlich ironisch gemeint). Wenn der Sinn des Daseins im entsagungsvollen Kampf der »Volksgemeinschaft« liegt, dann besteht der (ideelle) Lohn nur darin, an deren angeblich unendlicher Idee teilzuhaben. Eben das »Du bist nichts, dein Volk ist alles«, wie es immer Kern der Nazipropaganda war.

    Heidegger lässt dabei die polemische Stoßrichtung gegen Subjekte, die sich anmaßen, eigene Zwecke oder Interessen in der Welt geltend zu machen, deutlich hervortreten. Solche Wichte sind ein Fall von »Seinsvergessenheit« – und verdienen die Verachtung all derer, die sich am elitären Seinsgeschwafel zu erbauen vermögen. Insofern sind die biographischen Auskünfte zu seiner persönlichen »Kehre« von 1931/32 aufschlussreich: Im Kommunismus sieht er die Hauptgefahr, dass sich Menschen – gemäß der letzten Feuerbach-These von Marx – daranmachen könnten, statt unter philosophischer Anleitung die schwere Not der Zeit bzw. die schwere Zeit der Not sinnreich zu interpretieren, die Verhältnisse so zu verändern, dass keine religiösen oder weltanschaulichen Trostgründe mehr gebraucht würden.

    Die Analyse Deckers zielt also darauf, dass sich im Zentrum von Heideggers Philosophie durchaus Affinitäten zu einem Staatsprogramm finden, »das sich der Vorbereitung eines großen Krieges gewidmet und dafür auf Tugenden seiner Mannschaft Wert gelegt hat, die die fälligen Opfer bis hin zur Aufgabe des eigenen Lebens als sinnerfüllenden Dienst an einem übergeordneten Ganzen erscheinen lassen und nichts als diesen Lohn versprechen.« Damit – und das ist wohl das provozierendste Ergebnis der Analyse – hat man die Radikalisierung einer Idee vor sich, die zum anerkannten Besitzstand der Philosophiegeschichte gehört. Also keinen Außenseiter, der auf Abwege geraten ist, sondern den »konsequentesten Philosophen des 20. Jahrhunderts«.

    Johannes Schillo, Autor des Buches »Die AFD und ihre alternative Nationalerziehung« (2019), veröffentlichte an dieser Stelle in der jungen Welt zuletzt am 17.12.2019 einen Beitrag über die Erasmus-Stiftung der AfD.

    Aus: junge Welt – Ausgabe vom 02.02.2021 / Seite 12 / Thema: Bürgerliche Philosophie

    https://www.jungewelt.de/artikel/395567.b%C3%BCrgerliche-philosophie-sein-zum-faschismus.html

  3. Adenauers Geist im Dunstkreis der Grünen

    Neue Rechte – Altes Denken: Zum Antifaschismus der „liberalen Moderne“ gehört eine große Portion Antikommunismus. Anmerkungen zu Spengler und Heidegger

    https://www.heise.de/tp/features/Adenauers-Geist-im-Dunstkreis-der-Gruenen-5054199.html

  4. Heidegger und kein Ende

    Die Krise als Chance – für reaktionäres philosophisches Gelaber (05.01.21)

    http://www.scharf-links.de/48.0.html?&tx_ttnews%5Btt_news%5D=76178&tx_ttnews%5BbackPid%5D=49&cHash=30f38702c6

    Heidegger und die Folgen

    Antisemitismus an Hochschulen: no problem – Antizionismus: no chance (13.02.21)

    http://www.scharf-links.de/48.0.html?&tx_ttnews%5Btt_news%5D=76549&tx_ttnews%5BbackPid%5D=49&cHash=48db67b976

  5. Johannes Schillo: Neues von der deutschen „Universitätshure“

    Antisemitismus an Hochschulen: kein Problem. Antizionismus: keine Chance

    Die alten Vordenker der Neuen Rechten – national oder konservativ gesinnte Philosophen, Literaten, Kulturkritiker – waren in Deutschland West nie out. Heutzutage sind sie anerkannter Traditionsbestand des kulturellen Erbes, gleichzeitig ein gewisser Problemfall, da sich rechtspopulistische bzw. -radikale Elemente unverschämterweise bei diesem Erbe bedienen.

    Telepolis hat hier bereits in einigen Veröffentlichungen, festgemacht an Figuren wie Martin Heidegger oder Oswald Spengler, auf die neuere Diskurskultur mit ihrer Verschränkung von Abgrenzung und Vereinnahmung aufmerksam gemacht („Was sein muss, muss sein“).

    Dabei ist der Fall Heidegger besonders prominent, gilt er doch im akademischen Betrieb als der vielleicht „dornigste in der Geschichte der Philosophie“ (so das Philosophie-Magazin). „Zweifellos“ war der Mann „ein Nazi“, heißt es dann – das aber nur als Auftakt dazu, letztlich die Größe seines Denkens zu feiern und ihn mitsamt seinem metaphysischen Antisemitismus als wertvollen Besitzstand der Philosophiegeschichte zu würdigen.

    Im akademischen Betrieb: voll integriert

    Heideggers neue Aktualität

    Was aber gar nicht geht

    Schlag gegen jüdische Tradition der Zionismuskritik

    Cancelt die Cancel Culture!

    Und warum gibt es diese bedauerliche Diskursverengung im deutschen Universitätsbetrieb? Der Soziologie-Professor klärt auf: Es ist natürlich „historisch begründet – seit dem Ende des Nationalsozialismus gab es bei uns keine relevanten Rechts-Intellektuellen mehr, außer Carl Schmitt und Martin Heidegger, die aber nicht an die Universität zurückkehren konnten“. Ein typisch deutsches Defizit, so heißt es weiter, das andere Länder wie Frankreich oder Niederlande nicht kennen.

    Dabei ist die Bemerkung zu Heidegger falsch, die Lehrerlaubnis wurde ihm nur kurz entzogen, danach lehrte er munter an seiner alten Uni weiter. Und seitdem der ehemalige hochaktive Hochschulrektor das Zeitliche gesegnet hat, ist sein Geist in der deutschen Hochschullandschaft, wie gezeigt, immer noch heimisch.

    Wer da mit einer Antisemitismus-Resolution im philosophischen Seminar aufträte, würde natürlich sofort im Namen der bedrohten Meinungsfreiheit ausgeschlossen, wahrscheinlich unter hohem Erregungsgrad der Lehrkräfte.

    https://www.heise.de/tp/features/Neues-von-der-deutschen-Universitaetshure-5075461.html?seite=all

  6. Johannes Schillo nimmt die Nennung der jw im Verfassungsschutzbericht zum Anlass für Überlegungen, inwieweit staatliche Instanzen auf diese Art und Weise verstärkt generell Einfluss auf Diskurse im gesamten öffentlichen Raum nehmen wollen.

    Marx, dieser Linksextremist!

    (…) Die Stellungnahme, die in der Öffentlichkeit kaum beachtet wurde – im Blick auf Pressefreiheit machen „uns“ ja andere Länder Sorgen, nicht das eigene –, bringt für alle, die publizistisch tätig sind und frei informiert werden wollen, interessante Klarstellungen. (…)
    Wo der Extremismus beginnt
    Erstens wird mit dieser Beobachtung, die seit mehreren Jahren erfolgt und wegen der Bekanntmachung in den jährlich vorgelegten Verfassungsschutzberichten für die Zeitung negative wirtschaftliche Folgen hat, der Aufgabenbereich des Inlandsgeheimdienstes in bemerkenswerter Weise ausgedehnt. (…)

    Die Verfassungsfeindlichkeit des Marxismus wird dabei paradigmatisch – und angesichts der allseits konstatierten Erfahrungen sozialer Ungleichheit wohl auch nicht ganz zufällig – am Begriff der Klassengesellschaft festgemacht. Laut Innenministerium „widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde. Menschen dürfen nicht zum ›bloßen Objekt‹ degradiert oder einem Kollektiv untergeordnet werden, sondern der einzelne ist stets als grundsätzlich frei zu behandeln.“ Also ist über die Diskussion hinaus bereits die theoretische Grundlage ein Fall für den Verfassungsschutz. (…)

    Das jüngste Beispiel für einen solchen expansiven Kurs war die Konstruktion eines neuen extremistischen Tatbestands – „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ – zur Überwachung der „Querdenker-„Szene. Wenn dieses Konstrukt Bestand hat, müssen also jetzt Redaktionen, die über kritische Wortmeldungen oder Publikationen informieren, in ihrem Rezensionsteil etwa vor der genannten Publikation von Kerth/Kutscha warnen. Denn sie bezweifelt die offizielle staatliche Darstellung, dass der Verfassungsschutz die Verfassung schützt.

    Professor Hajo Funke, der als Wissenschaftler die diversen NSU-Untersuchungsausschüsse begleitete, hat in einem Telepolis-Interview ebenfalls auf diesen Punkt aufmerksam gemacht und sich als „Delegitimierer“ bekannt: Er bezweifelt nämlich, dass die Untersuchungsausschüsse zu den letzten Staatsschutzskandalen wirklich das Ziel der rückhaltlosen Aufklärung verfolgten.

    Man sieht, die Zulassungsbedingungen zum öffentlichen Diskurs werden neu geregelt – und das zu einem Zeitpunkt, zu dem die Bundesregierung nachdrücklich die Unterdrückung der Pressefreiheit in Ländern wie China oder Russland anprangert. Was bleibt, ist die Frage, was man zur Aufklärung gesellschaftlicher Sachverhalte heute noch sagen darf, ohne ins extremistische Fahrwasser und damit ins Visier des hochgerüsteten deutschen Sicherheitsapparates zu gelangen.“

    https://www.heise.de/tp/features/Marx-dieser-Linksextremist-6045658.html?seite=all