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Kritik an Ideologien, Aufklärung über populäre Irrtümer, Kommentare zum Zeitgeschehen

Rotlicht: Rassismus – Von Arian Schiffer-Nasserie

Von • Jun 21st, 2020 • Kategorie: Allgemein

 

Rotlicht: Rassismus

Von Arian Schiffer-Nasserie

 

Aus gegebenem Anlass demonstrieren gegenwärtig Tausende für Respekt gegenüber Minderheiten und verurteilen entschieden »den Rassismus«.

Sie sind für Toleranz, Vielfalt, Wertschätzung und vor allem für die Anerkennung der rechtlichen Gleichheit aller Menschen »ohne Ansehen der Person«.

 

Dabei machen sie eine seltsame Erfahrung: Ob Bundesliga oder Bundespräsident, Arbeitgeberverband oder Gewerkschaften – gegen Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe, der Herkunft usw. sind heutzutage irgendwie alle. Nicht nur in Deutschland. Die antirassistische Bewegung rennt in ihrem Kampf lauter offene Scheunentore ein. Einerseits. Und andererseits will der allseits beklagte Rassismus irgendwie nicht verschwinden. Die Beobachtung lässt sich verallgemeinern. Rassismus ist ein Phänomen der bürgerlichen Epoche und erscheint zugleich als schreiender Widerspruch zu ihren Prinzipien der universellen Menschenrechte.

Geschichte und Gegenwart der Neuzeit präsentieren sich dem unvoreingenommenen Betrachter als üppige Ansammlung grotesker Selbst- und Fremdbilder. Es finden sich wissenschaftlich belegte, aber »veraltete« Theorien über »die Wilden«, über »den Neger«, über »Arier«, »Juden«, »Untermenschen« sowie eher moderne Vorstellungen über »gewachsene Nationen« samt »kulturellen Wurzeln« und »Volksstämmen«, über jeweilige »Begabung, Intelligenz und Veranlagung«, über kriminelle Energie sowie die naturgegebene Staatsbedürftigkeit des Zoon politikon im allgemeinen.

Die Gemeinsamkeit aller Erscheinungsformen: Rassistische Ideologien interpretieren die Willens- und Herrschaftsverhältnisse zwischen Menschen, ihre Anpassungs- und Überlebensstrategien unter den Bedingungen von Gewalt, Geld und Gewöhnung als Ausdruck ihrer vermeintlich natürlichen oder ahistorisch-kulturellen Eigenschaften, d. h. als »Rassen«, Ethnien, Völker oder als so und so veranlagte und begabte Individuen und Gattungswesen. Theoretisch betrachtet ist Rassismus insofern Antikritik schlechthin. Praktisch verlangt er die Affirmation der herrschenden Interessen und legitimiert die dafür nötige Gewaltausübung als vermeintliches Naturgesetz.

 

Volkstümlich formuliert lautet die Kurzformel des Rassismus schlicht:

»Die sind halt so!« Der Beweis ist ebenso schnell erbracht: »Schau sie dir doch an!« Das Beweisziel: »Jedem das Seine«. Oder modern:

»Jeder verdient, was er verdient.« Für Rassisten ist die vorgefundene Welt nicht fragwürdig, d. h. auch nicht der Frage würdig. Sie ist vielmehr »natürlich«. Die verführerische Überzeugungskraft rassistischer Ideologien liegt in der unbegriffen-affirmierten Kraft des Faktischen.

 

Rassistisches Denken hat also Methode: Ungeachtet der materiellen und historischen Bedingungen sozialer Verhältnisse wird schnurstracks von der sozialen Wirklichkeit auf eine angeblich genau so geartete Menschennatur zurückgeschlossen. Rassismus ist insofern keine geheime Ablenkungsstrategie der Herrschenden, sondern die ideologische Eigenleistung bürgerlicher Individuen.

Kritische (Zeit-)Genossen suchen Rassisten mit der Autorität angeblicher Naturgesetze auf die herrschenden Verhältnisse zu verpflichten. Dabei leisten sie sich den Widerspruch, entweder für die Anerkennung vermeintlicher Naturgesetze zu argumentieren (als ob die Natur das nötig hätte), oder, schlimmer noch, sie setzen das vermeintliche Naturgesetz gewaltsam gegen jene durch, die gegen die sozialen Verhältnisse verstoßen oder aufbegehren und deshalb ihre Lektion verdient haben.

Der eingangs erwähnte Widerspruch lässt sich auflösen. Die egalitären Grundrechte sind nämlich die Verwirklichungsbedingungen der bürgerlichen Konkurrenz. Die rassistische Interpretation ihrer brutalen Resultate als »freie Entfaltung« der »Persönlichkeit« genießt in Deutschland sogar Verfassungsrang – nicht trotz, sondern gerade wegen der rechtlich garantierten Chancengleichheit. Ohne die Kritik der kapitalistischen Konkurrenz tendiert der Kampf der antirassistischen Bewegung zur hilflosen Spiegelfechterei.

 

Aus: junge Welt – Ausgabe vom 17.06.2020 / Seite 14 /

 

https://www.jungewelt.de/artikel/380405.rotlicht-rassismus.html

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  1. Rotlicht: Postkolonialismus
    Von Arian Schiffer-Nasserie

    Ein Schlagwort beherrscht die Diskussion: Ob es um Rassismus in den USA geht, um den Umgang mit Flüchtenden oder das Elend der Menschen im »globalen Süden« – der Verweis auf das Fortbestehen »postkolonialer Strukturen« lässt meist nicht lange auf sich warten. Gemeint ist damit laut der Onlineenzyklopädie Wikipedia »die Annahme, dass die Kolonien nur politisch befreit seien, jedoch weiterhin durch die Hegemonie eurozentrischer Sichtweisen (!) beherrscht würden«.

    Postkoloniale Theorien verstehen sich als kritisches Korrektiv zum vorherrschenden Weltbild. Folgt man letzterem, so leben wir in einer Welt der freien Konkurrenz auf der Grundlage von Völker- und Menschenrechten, die der Menschennatur entsprechen. In dieser besten aller Welten sind einfach alle – Staaten, Völker, Unternehmen und Individuen – unterschiedslos eingeladen, sich frei zu entfalten, d. h. um Macht und Reichtum in Form von Dollar oder Euro zu konkurrieren. Und das angeblich zum Vorteil aller Beteiligten weltweit.

    Vom postulierten Vorteil ist in den entsprechenden Weltgegenden wenig zu sehen. Statt dessen gibt es den Ausverkauf der natürlichen Ressourcen, Handelsdefizite, Staatspleiten, Verteilungskämpfe und Zerfall. Auch in den Zentren des Kapitalismus sind die Lebensbedingungen nicht zum Nutzen aller eingerichtet, und das ist noch vorsichtig formuliert. Migranten aus den ehemaligen Kolonien im Süden oder den einst besetzten Gebieten im Osten sowie die Nachfahren ehemaliger Sklaven in den USA gehören überdurchschnittlich häufig zu den Verlierern in der sogenannten ersten Welt (Stichworte: Ausbeutung als Erntehelfer oder Putzkräfte, Prostitution, Wohnbaracken, Abschiebungen, Polizeikontrollen etc.).

    Im Lichte des vorherrschenden Weltbildes ergibt sich aus der Diskrepanz zwischen den blumigen Versprechen globaler Konkurrenz »ohne Ansehen der Person« und ihren Resultaten in der harten Wirklichkeit eine brutale Schlussfolgerung: Vom jeweiligen Erfolg wird auf die Erfolgsfähigkeit der Individuen und Völker geschlossen. Wenn es bei letzteren schon nicht an ihrer afrikanischen, asiatischen oder osteuropäischen »Rasse« liegt – solche Theorien sind seit 1945 eher tabu – hat es vielleicht aber etwas mit ihrer »Kultur«, ihren »Wurzeln« oder ihrer »Religion« zu tun, wenn aus den entsprechenden Ländern und ihren »Ethnien« trotz Dekolonialisierung, Völker- und Menschenrecht, Entwicklungshilfe sowie einigen gut gemeinten NATO-Kriegen nichts wird?

    Vertreter postkolonialer Theorien möchten diesen verächtlichen Schlussfolgerungen widersprechen. Sie begreifen die »eurozentrischen Sichtweisen« nicht als ideologische Folge der aktuellen Weltordnung aus Geld und Gewalt, sondern geradezu spiegelbildlich als die eigentliche Ursache für das Elend der »Marginalisierten«. Sie kämpfen daher – immanent folgerichtig und praktisch hilflos – mit »Political Correctness« gegen Rassismus und für mehr Wertschätzung zugunsten der Schwachen.

    Analytisch ist das haltlos, weil es die notwendigen Resultate der Konkurrenz (es muss Verlierer geben) von ihrem Prinzip trennt. So, als sei der globale Wettbewerb eine Art Fairplay, um den Schwächsten die Chance zum Aufstieg zu ermöglichen – und nicht eine Einrichtung zum Nutzen seiner westlichen Erfinder, die bereits über die konkurrenzfähigsten Kapitale und die größte Marktmacht verfügen. Praktisch sind entsprechende Ansätze hilflos, weil sich durch veränderte »Sichtweisen« weder an den Resultaten des Welt(arbeits)marktes noch am Rassismus etwas ändert. Oder anders: Vertreterinnen und Vertreter postkolonialer Theorien sehen Ursachen für das Leid der »Verdammten dieser Erde« in der kolonialen Vergangenheit, weil sie an den völker- und menschenrechtlichen Prinzipien der Gegenwart keine Herrschafts- und Ausbeutungsinteressen erkennen können. Moderne Imperialismustheorie tut Not!

    Aus: junge Welt – Ausgabe vom 05.08.2020 / Seite 14 / Feuilleton: Schlagworte

    https://www.jungewelt.de/artikel/383647.rotlicht-postkolonialismus.html