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Dillmann/Schiffer-Nasserie: Zwangserspartes Gnadenbrot

Von • Mai 24th, 2019 • Kategorie: Allgemein

Zwangserspartes Gnadenbrot

 

Die Rentenversicherung wird 130 – ein Grund zum Feiern? Bilanz einer »sozialen Errungenschaft«

 

Von Renate Dillmann und Arian Schiffer-Nasserie

 

Am 24. Mai 1889 verabschiedete der deutsche Reichstag mit knapper Mehrheit die Einführung einer Alters- und Invaliditätsversicherung. Auch wenn es noch zwei Jahre dauerte, bis die gesetzliche Rentenversicherung in Kraft trat, kennzeichnet dieses Datum die Geburtsstunde der Rente für die lohnabhängig Beschäftigten in Deutschland. Was die Rentner 130 Jahre später davon haben und wie sie damit über die Runden kommen (oder auch nicht) ist Lesern dieser Zeitung hinlänglich bekannt. Anlass genug für eine kritische Bilanz.

 

Pauperismus und Arbeiterbewegung

[…]

Staatliche Betreuung

[…]

Erfolgsstory – für wen?

 

Die historische Leistung der gesetzlichen Rentenversicherung ist kaum zu überschätzen: Sie war ein Meilenstein bei der Befriedung und Disziplinierung der Arbeiterklasse in Deutschland. Sie hat die störenden Konsequenzen der proletarischen Altersarmut eingedämmt und die Entscheidungen über den materiellen Lebensabend der Lohnabhängigen »politisiert«, d. h. an die Auseinandersetzung der Parteien und die Gesetzgebung gebunden. Dem Proletariat hat sie durch das dekretierte Zwangssparen ein aus dem Lohn »selbst finanziertes Gnadenbrot« (Albert Krölls) beschert, das ideologisch bis heute gerne, weil »paritätisch« bezahlt, als klassenübergreifendes Gemeinschaftswerk der Nation gefeiert wird. Vor allem aber hat der deutsche Staat – später von vielen Nationen kopiert – die Lohnarbeiterexistenz mit der gesetzlichen Verstaatlichung von Lohnbestandteilen von sich abhängig gemacht. Fortan war die politische Obrigkeit nicht mehr nur der negative »Nachtwächterstaat«, der die Eigentumsordnung gegen die arbeitende Klasse der Reichtumsproduzenten durchsetzte und sicherte, sondern auch die fürsorgliche Macht, von der das eigene Überleben im Alter positiv abhängt. Damit war die materielle Grundlage für jenes »falsche« Bewusstsein gelegt, das bis heute den politischen Willen des Proletariats bestimmt, den die politischen Eliten der Klassengesellschaft zu allen Zeiten so formulieren: Der Staat als positive Bedingung der Lohnarbeiterexistenz gegen die »Risiken« der freien Marktwirtschaft, der deshalb umgekehrt die nationalistische Loyalität der so kreierten Sozialrechtssubjekte einfordert und fördert.⁵ Ein weiterer Erfolg: Kaiserreich, Faschismus und Bundesrepublik haben mit der gesetzlichen Rentenversicherung eine Finanzquelle gefunden, die zu allen Zeiten für die Ziele und Zwecke der Nation in Anspruch genommen wurde und wird.

 

Und die Bilanz vom Standpunkt der Lohnabhängigen? Gewiss, verglichen mit den Lebensverhältnissen der Arbeiterklasse vor 130 Jahren ist die gesetzliche Rentenversicherung auch für sie eine Errungenschaft. Zwar fällt auch heute jeder fünfte Rentnerhaushalt unter die Rubrik »Altersarmut« und jede zweite Altersrente liegt unter 800 Euro – aber »immerhin« … Der Vergleich verdeckt allerdings einen Skandal, an dem sich gerade nichts geändert hat. Der Lohnarbeit im Kapitalismus kann nämlich kaum ein schlechteres Zeugnis ausgestellt werden als der Hinweis darauf, dass Menschen nach jahrzehntelanger produktiver Arbeit nichts erworben haben, keine Rücklagen bilden konnten, um ihren Lebensabend in Wohlstand verbringen. Ihre Arbeit hat Reichtum produziert und andere reich gemacht. Sie aber sind von diesem gewachsenen Reichtum ausgeschlossen und beenden ihr Arbeitsleben ebenso eigentumslos, wie sie es Jahrzehnte zuvor begonnen haben.

 

Renate Dillmann und Arian Schiffer-­Nasserie lehren an der Evangelischen Hochschule in Bochum. Im vergangenen Oktober erschien von ihnen im Hamburger VSA-Verlag das Buch »Der soziale Staat. Über nützliche Armut und ihre Verwaltung. Ökonomische Grundlagen – Politische Maßnahmen – Historische Etappen, 304 Seiten, 19,80 Euro.

 

Aus: junge Welt – Ausgabe vom 24.05.2019 / Seite 12 / Kapital & Arbeit

 

https://www.jungewelt.de/artikel/355440.rente-zwangserspartes-gnadenbrot.html

 

https://www.vsa-verlag.de/index.php?id=6576&tx_ttnews[tt_news]=18104

One Response »

  1. Ergänzend dazu: Margarethe Wirth, Rentenversicherung. Vortrag von 2019

    https://www.youtube.com/watch?v=OJiVwEQbr5c