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IVA: Kollabierender Kapitalismus? / Religiöser Antikapitalismus (Juni 2017)

Von • Jun 11th, 2017 • Kategorie: Allgemein

IVA: Kollabierender Kapitalismus? / Religiöser Antikapitalismus (Juni 2017)

 

Kollabierender Kapitalismus?

 

Künden die aktuellen Krisensymptome von der Apokalypse, die der Kapitalismus unaufhaltsam herbeiführt? Leben wir gar schon im Postkapitalismus? Solche Fragen werden zum Zehnjährigen der großen Finanz- und Wirtschaftskrise aufgeworfen. Dazu ein Kommentar der IVA-Redaktion.

2017 feiert die große Finanz- und Wirtschaftskrise ihr zehnjähriges Jubiläum und Diagnosen aus der Linken bescheinigen der Krise zunehmend einen finalen Charakter. „Schon hat, was als Wirtschaftskrise begann, sich zu einer Gesellschaftskrise ausgewachsen“, stellt der englische Journalist Paul Mason fest (2016a, 47) und konstatiert gleichzeitig, wir seien bereits in die Ära des „Postkapitalismus“ eingetreten. Daher will er mit seinen – von vielen Medien aufgegriffenen – Einlassungen den Nachweis führen, „warum es kein utopischer Traum mehr ist, den Kapitalismus zu ersetzen, warum das gegenwärtige System bereits die Grundformen einer postkapitalistischen Wirtschaft enthält und wie diese Strukturen rasch weiterentwickelt werden könnten.“ (Mason 2016b, 12)

„Sind die aktuellen Krisensymptome die apokalyptischen Reiter, die das Ende des Kapitalismus ankündigen?“ fragen Joachim Bischoff und Klaus Steinitz in ihrem neuen Buch „Götterdämmerung des Kapitalismus?“ (Bischoff/Steinitz 2016, 7). Die Begründung klingt etwas trivial: „Der Kapitalismus hat vor Jahrhunderten im Niedergang des Feudalismus seinen Anfang genommen, es ist also nicht überraschend, wenn er auch ein Ende findet.“ (Ebd., 13) Ähnlich wie bei Mason heißt die Konsequenz jedenfalls: Alle Anstrengungen müssen sich jetzt auf ein Modell für den Übergang richten, der natürlich schrittweise zu gehen hat, denn die Verabschiedung des Kapitalismus, die eigentlich auf der Tagesordnung steht, ist der Menschheit noch fremd, daher nur über vorsichtige Reparaturmaßnahmen am bestehenden System zu erreichen. „Zunächst sollten wir die Globalisierung retten, indem wir den Neoliberalismus beseitigen. Anschließend retten wir den Planeten – und ersparen uns Wirren und Ungleichheit –, indem wir den Kapitalismus überwinden.“ (Mason 2016b, 11) Tja, first we take Manhatten, then we take Berlin – to change the system from within…

Ergibt sich ein solcher „finaler“ oder „letaler“ Krisencharakter auch aus den Erkenntnissen der marxistischen Theorie, also aus einer politökonomischen Analyse, die den (Über-)Akkumulationsprozess des Kapitals erklärt und sich nicht im Einsammeln düsterer Prognosen der marktwirtschaftlichen Akteure und der kulturkritischen Experten ihres Überbaus erschöpft? Elmar Altvater hat dies schon vor dem Ausbruch der Finanzkrise in einer Publikation bejaht (vgl. Altvater 2005), Freerk Huisken hat eine derartige Endzeitdiagnose bestritten (vgl. Huisken 2006, 2010).

Natürlich ist es nicht zu leugnen, dass auch Jahre nach Ausbruch der amerikanischen „Hypothekenkrise“ immer noch und verschärft der „Weltkapitalismus im Krisenmodus“ läuft, wie die Vierteljahresschrift Gegenstandpunkt in einer ausführlichen Krisenanalyse Ende 2016 festhielt (vgl. Decker 2016). Bedeutet das aber ein Kollabieren des Kapitals, die „finale Krise der Weltwirtschaft“, die z.B. Tomasz Konicz in seinem Buch über den „Kapital-Kollaps“ (Konicz 2016) konstatiert? (…)

 

https://www.i-v-a.net/doku.php?id=texts17#kollabierender_kapitalismus

 

 

Religiöser Antikapitalismus

Religiöse Autoritäten wie Martin Luther oder Papst Franziskus gelten heutzutage – was bereits in zwei IVA-Texten 2016 Thema war – als Kronzeugen der Kapitalismuskritik. Dazu ein weiterer Beitrag der IVA-Redaktion.

„Der Kapitalismus sonnt sich nach dem Ende des Sowjetkommunismus als Sieger in allen vergangenen und zukünftigen Ideologie-Streiten. Und dann schreibt Papst Franziskus eine neue Enzyklika…“, woraufhin „die Welt“ aufhorcht und die Schönfärberei der herrschenden Wirtschaftsweise einen Dämpfer erhält (George 2017, 9). Das behauptet Ernst-Ulrich von Weizsäcker im Geleitwort eines Sammelbandes, der als Reaktion der Wissenschaftlergemeinde auf die Umweltenzyklika „Laudato Si‘“ entstanden ist, und bekräftigt so noch einmal die dem Papst von verschiedenen Seiten zugeschriebene Rolle des konsequentesten Kapitalismuskritikers der Gegenwart. Dass dies – gelinde gesagt – eine Übertreibung ist, war schon in der Auseinandersetzung mit dem Franziskus-Buch „Diese Wirtschaft tötet“ von Franz Segbers und Simon Wiesgickl Thema (siehe den IVA-Blogeintrag „Oh Gott, katholische Kapitalismuskritik“, 2016).

Zu einer theoretisch begründeten Absage an den Kapitalismus, etwa zur Kritik der politischen Ökonomie und zum wissenschaftlichen Sozialismus, hält Franziskus jedenfalls deutliche Distanz, und dem letztjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos ließ er folgendes Lob der Marktwirtschaft zukommen: „Ich habe oft gesagt und wiederhole es jetzt gerne, dass die Unternehmertätigkeit ‚eine edle Berufung darstellt und darauf ausgerichtet ist, Wohlstand zu erzeugen und die Welt für alle zu verbessern‘, besonders ‚wenn sie versteht, dass die Schaffung von Arbeitsplätzen ein unausweichlicher Teil ihres Dienstes am Gemeinwohl ist‘ (Laudato si’, 129).“ (Radio Vatikan 2016)

Da 2017 Luther-Jahr ist, gibt es analoge Bestrebungen, Martin Luther für eine Verurteilung der globalisierten Marktwirtschaft des 21.

Jahrhunderts in Anspruch zu nehmen. Theologieprofessor Ulrich Duchrow hat zum evangelischen Kirchentag 2017 den Band „Mit Luther, Marx & Papst den Kapitalismus überwinden“ angekündigt. Dem Autor zufolge muss die kapitalistische Zivilisation, deren Vorformen vor fast 3000 Jahren begonnen haben sollen, so schnell wie möglich überwunden werden. Denn – siehe das Papst-Wort „Diese Wirtschaft tötet“ – sie zerstöre das Leben und – siehe „Laudato si’“ – die natürlichen Lebensgrundlagen. Nötig seien jetzt kritisch-konstruktive Gegenkräfte und -konzeptionen. Anstöße dazu ließen sich vor allem seit 500 Jahren in der direkten Auseinandersetzung mit den Etappen des sich durchsetzenden Kapitalismus finden. Martin Luther gilt Duchrow dafür als Gewährsmann, die Veröffentlichung des „Kapital“ 1867 als ein weiterer wichtiger Schritt. Und seit Ende des 20. Jahrhunderts soll die christliche Ökumene, also das Konglomerat der sich auf Jesus berufenden Konfessionen und Sekten, konsequent auf einem Weg sein, der an der Überwindung des Kapitalismus arbeitet. Die Bemühungen hätten 2013 ihren vorläufigen Höhepunkt mit den Dokumenten des Ökumenischen Rats der Kirchen erreicht (Auszüge sind abgedruckt in:

Segbers/Wiesgickl 2015). Sie rückten die „Wirtschaft im Dienst des Lebens“ ins Zentrum, und der Apostolische Brief „Evangelii gaudium“ des Bergoglio-Papstes habe dies als ökumenischen – ja interreligiösen – Konsens bestätigt. (…)

 

https://www.i-v-a.net/doku.php?id=texts17#religioeser_antikapitalismus

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