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[10/2010] Der Fall Sarrazin – eine Buchveröffentlichung wird zur Staatsaffäre

Von • Okt 28th, 2010 • Kategorie: Artikel

Dieser Mann kennt nur eine Sorge: Die Nation, ihr Reichtum und ihre Macht, soll wachsen – was immer diese Macht daheim oder auswärts anrichtet. Das treibt ihn um, und er will „provozieren“. Womit eigentlich? Mit einer ganz normalen Denke, wie man sie von Politikern immer wieder hört: „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“: Ein Alptraum – für Patrioten wie ihn. Das soll man als schlimme Nachricht verstehen – egal, was man vom Leben in diesem Lande hat. „Bald nur noch 5 Millionen Deutsche?“: Ein Horrorszenario – unterstellt, man hält diese Sorte Mensch mit deutschem Pass für etwas Besonderes. Selbst der Autor stellt rhetorisch die Frage: „Was wäre daran so schlimm?“ Dann hätten WIR in der Staatenkonkurrenz so wenig zu melden „wie Dänemark mit rund 5 Millionen Einwohnern“: Eine unerträgliche Vorstellung für einen, der von früh bis spät ans nationale WIR denkt!

Damit das nicht passiert, befasst er sich mit dem Volk. Das schätzt er sachgerecht in der Rolle als Diener des Erfolgs: Entweder es wird als Humankapital nach Strich und Faden ausgenutzt – oder es taugt nichts. Durch diese staatsmännische Brille betrachtet Sarrazin seine Bevölkerung und ist entsetzt: Der Volkskörper besteht aus zunehmend weniger Dienern und immer mehr Schädlingen! Es gibt zu viele der Marke „Prekariat“, das als in- wie ausländische Unterschicht „ohne jede produktive Funktion“ herumlungern soll. Und es gibt zu wenige der Marke „Leistungsträger“, auf deren „Fleiß und Tüchtigkeit“ die Wirtschaft angeblich basiert.

Durch diese Brille betrachtet, steht die Welt auf dem Kopf. Sarrazin deutet auf Millionen von Menschen inklusive Anhang, die der deutsche Kapitalismus nicht oder nicht mehr anwenden will; er zitiert Statistiken, die Armut, Ungebildetheit und Verwahrlosung dieser Bevölkerungsteile zweifelsfrei belegen sollen; und er zeigt auf sie in eindeutig diskriminierender Absicht! Die soziale Lage, in die diese Marktwirtschaft sie gebracht hat, legt er den Aussortierten als gerechte Quittung für mangelhafte Leistung bzw. Einstellung zur Last. Wer vom Kapital nicht mehr gebraucht wird, dem verpasst Sarrazin das Etikett „unbrauchbar“. Er erklärt es damit zu einer Eigenschaft der so beschimpften Leute, dass sie aus der Konkurrenz aussortiert worden sind. Etliche Rationalisierungswellen sind über Deutschland hinweggegangen, Hunderttausende, die bis dahin nützlich waren, sind rausgeflogen. – Hat sich an diesen Leuten plötzlich herausgestellt, dass sie faul und unfähig sind? Aber egal: Wer in der Konkurrenz um Rang und Einkommen ganz unten landet, der hat nach Sarrazin nicht nur den Schaden, der ist einer – für das deutsche Gemeinwesen!

Diese Leute belasten nur. Das wäre halb so schlimm, wenn es mehr von den Guten gäbe, denen die von den Unternehmern benutzt werden, was er denen ebenso als Erfolgstüchtigkeit zugute hält, wie umgekehrt den Arbeitslosen ihre Entlassung als Unbrauchbarkeit. Doch ach! Die Elite strebsamer Betriebswirte, Ingenieure und Studienrätinnen wird immer kleiner, während die Zahl „egoistischer“ Taugenichtse wächst: „Deutschland wird immer dümmer und ärmer!“ Das darf der Staat nicht hinnehmen, doch was macht er? Er leistet sich laut Sarrazin „das perverse System staatlicher Transferleistungen“, das die Kostgänger der Nation, die Erfolglosen, seit Jahrzehnten durchfüttere!

Dabei zielt seine Kritik auf zugereiste und eingeborene Mitglieder der Unterschicht, die er gleich vorwurfsvoll „Integrationsverweigerer“ nennt: Jener notorisch überflüssige Teil des nationalen Arbeitsvolks sei nicht nur Zeugnis fehlenden Leistungswillens, also letztlich eines schlechten Charakters, sondern auch Produkt staatlicher Förderung, die diese Leute zu ihrem asozialen Verhalten geradezu einlade. „Integrationsunwillige bzw. ‑unfähige“ Volksgruppen entdeckt Sarrazin unter deutschen wie ausländischen Erwerbslosen und Kriminellen. Bei Migranten arabischer/türkischer Herkunft und muslimischen Glaubens kommt erschwerend sein Pauschalverdacht hinzu, dass die „ihren eigenen Stiefel leben wollen“. Was Sarrazin in anderen Kapiteln als Markenzeichen der Demokratie gegenüber der „intoleranten islamischen Kultur“ herausstreicht, jeder könne nach seiner Fasson leben, billigt er solche Leuten, die pflegen „undeutsche Sitten und Gebräuche“ pflegen, nicht zu; die passen einfach nicht hierher.

Deutschland ist bedroht von „Überfremdung“ und „Sozialschmarotzern“: In der Diagnose ist ein Sarrazin mit der regierenden Elite einig; nur macht er genau ihre Integrationspolitik dafür haftbar. Das Konzept, den in der freien Marktwirtschaft zwangsläufig anfallenden Ausschuss zur Dienstbarkeit anzuhalten und Ausländerfamilien in ihren Ghettos sozusagen einzudeutschen, gilt den Falschen; an die ist jede sozialstaatliche Zuwendung vergeudet. Erziehung zu brauchbaren Konkurrenzsubjekten und gesitteten Staatsbürgern ist in diesem „kulturellen Milieu“ vergebliche Liebesmüh. So erklärt Sarrazin 30 Jahre Integrationspolitik zum Grund allen Übels: Sie erlaube extrem fruchtbaren Fremdlingen die „Eroberung Deutschlands über Fertilität“ und damit die Zersetzung der Nation durch ihre hohe Geburtenrate. Auch diese Sorge teilt er mit modernen Bevölkerungspolitikern aller Parteien, die sich um Geburtenrate und Aufzucht eines gesunden einheimischen „Volkskörpers“ kümmern; nur denkt der Mann nicht an Elterngeld, Deutschkurse, Streetworker oder Islamkonferenz, sondern ihm schwebt eine ganz andere Therapie vor: Statt von Seiten der Politik immer wieder den Versuch zu unternehmen, alle in Deutschland lebenden Menschen zu nützlichen Gliedern der Volksgemeinschaft zu machen, sollten die als solche ausgemachten Schmarotzer und Unwilligen aus der Volksgemeinschaft ausgegrenzt werden.

Das ist ein gezielter „Tabubruch“ – so darf man in Deutschland gemäß politischer Übereinkunft seit Hitler nicht daherreden! Und diesen Tabubruch begründet Sarrazin gleich noch mit einem zweiten: Alle Integrationsversuche müssen an der Dummheit oder Natur mancher Volksgruppen scheitern. Freie Konkurrenz um die feststehenden Posten der Klassengesellschaft ohne Ansehen von Person und Herkunft, wenn „die Dummen und Faulen“ nachher eh in der Gosse oder in der Sozialhilfe landen – das hält er für einen gefährlichen Luxus! Er will das Ergebnis der Auslese in der Konkurrenz gleich politisch vorweggenommen wissen: Ausgrenzen statt einspannen! So lautet seine Empfehlung für die Behandlung der Underdogs. Als Kronzeugen für seine Kritik zitiert Sarrazin die Gene wie die Sitten: „Fremde Minderheiten“ zur Konkurrenz zuzulassen, denen jede Voraussetzung von Haus aus abgehe, und „Arbeitsverweigerer“ staatlich zu unterstützen, statt sie ohne Transferleistungen entweder in Arbeit oder aus dem Land zu treiben – das gilt ihm als letzter Sargnagel für Deutschlands Zukunft.

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Bezeichnend, wie die politische Elite in Regierung und Opposition das Buch kritisiert: durchaus kollegial („wenig hilfreich“, Merkel), aber auch feindselig („gefährlich“, Gabriel), jedenfalls als ernstzunehmende Konkurrenz. Beide sind mit Sarrazin d’accord, was das Ziel angeht, den deutschen Volkskörper zu einer nutzbaren Ressource für Deutschlands Größe zu machen. Natürlich müssen sich Hartz‑IV’ler, Türken & Moslems an Deutschland anpassen, natürlich gehören sich Problemfälle „mit Strenge“ behandelt. Genau wegen ihrer Einigkeit in der Sache fokussieren sie sich auf die einzige, aber entscheidende Differenz: Sarrazins Gentheorie nennen sie „völkische Eugenik“ und Auslese-Theorie „aus dem 19. Jh.“. Diese kontern sie mit der Drohung, dass moderne Integrations-Politik keinen auslässt, also einfach effektiver ist als die von Sarrazin geforderte Ausgrenzung. Jeder darf sich, muss sich also am selben Maßstab staatlicher Ansprüche an seine Bevölkerung aus aller Welt bewähren. Im Vorwurf schließlich, Sarrazin propagiere „blanken Populismus“ geben sie zu Protokoll, was sie als arrivierte Inhaber der Macht hauptsächlich an Sarrazin stört. Sie ärgert, dass der alternative Nationalismus, den er mit dem Vorwurf des Ausverkaufs deutscher Interessen gegen sie schürt, beim Volk ankommt: Deshalb nennen sie ihn einen „Rechtspopulisten“. Von so einem wollen sich die Herrschaften ihre arbeitende und wählende Gefolgschaft nicht klauen lassen; deshalb wird Sarrazin aus dem Konsens der Demokraten ausgeschlossen.

Bezeichnend auch, wie das einfache Volk das Buch versteht bzw. missversteht: „Endlich mal einer, der sagt, was Sache ist!“ Deutsche Lohnabhängige mit und ohne Arbeit, selbst wohlintegrierte Ausländer, begreifen Sarrazin als ihren Freund, doch da irren sie sich: Auch Leute wie sie sind gemeint, wenn er den Volkskörper auf „Fäulnisherde“ untersucht! Auch sie werden als Hartz‑IV-Empfänger des Schmarotzertums verdächtigt. Warum kleine Leute ihn dennoch für einen Anwalt ihrer Interessen halten, liegt an deren erfolgreicher Politisierung: Sarrazin bedient die Lebenslüge aller Nationalisten, wonach der Dienst am Vaterland sich eigentlich auszahle. Und wenn dieses Auszahlen schon nicht mit Arbeitsplätzen und Vorzugsrechten für gute Deutsche geschieht, dann hat man als leistungswilliger, anständiger Deutscher wenigstens Anspruch darauf, dass die Politik die Totalverlierer der Konkurrenz aussondert, statt sie zu sponsern – insbesondere dann, wenn sie ausländischer Herkunft sind. Sarrazins Wahn, Deutschland schaffe sich über die politische Bevorzugung undeutscher oder gar antideutscher Elemente selber ab, hat im geistig-moralischen Alltag dieser Republik offenbar einen fruchtbaren Nährboden.

Von wegen also: Sarrazin als Vorbote eines aufziehenden „Faschismus“! Diese Kritik trifft weder die Sache noch die Debatte, die mit ihm und über ihn geführt wird: Da streiten auf allen Seiten moderne Menschensortierer darüber, wie das Humankapital der Nation, sei es nun in- oder ausländischer Abstammung, am besten benutzt und gezwirbelt, sprich: regiert wird. Stärker einbinden oder härter ausgrenzen: Diese Alternative unter Anteilnahme der höheren und niederen Stände als Pro- & Contra-Debatte zu inszenieren – darin sind unsere amtierenden Demokraten wirklich unschlagbar.

Fazit:

Vor lauter Debatte über den politischen Anstand kommt die politische Sache – die ökonomischen Lebensbedingungen, die Gesetze und Sitten der Nation, an die sich angepasst werden soll – gar nicht mehr zur Sprache bzw. viel zu gut weg. Wer „Integration“ fordert, unterstellt Deutschland als das Maß aller Dinge! Anders gesagt: Wer diese Nation und ihre kapitalistische Konkurrenzgesellschaft nicht kritisiert, braucht sich über Sarrazin nicht extra aufzuregen.

Aus: Die Analyse des GegenStandpunkt-Verlags in Radio Lora München vom 11. Oktober 2010

Lesetipps:

‚Biete türkisch-arabische Unterschicht – suche osteuropäische Juden‘
Thilo Sarrazin baut an einer nachhaltigen Gesellschaft für den deutschen Staat

in GegenStandpunkt 4-09

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