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Kritik an Ideologien, Aufklärung über populäre Irrtümer, Kommentare zum Zeitgeschehen

[09/2009] Der Wähler

Von • Sep 9th, 2009 • Kategorie: Artikel

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I.

Der wirkliche Souverän ist auch in der Demokratie die jeweilige Regierung. In der Demokratie ist die aber höflich genug, „den Wähler“ als den „eigentlichen“ Souverän von sich zu unterscheiden und als ihren Auftraggeber auszugeben.

Dieses „eigentliche“ Subjekt des nationalen Willens ist, was sonst im demokratischen Freiheitsstall zutiefst verpönt ist, ein Kollektiv, in dem der einzelne überhaupt nicht nach Leistung gewürdigt wird, auch nicht nach seinen Überlegungen und Argumenten, sondern als unterschiedslose Ziffer. Fürs Wahlergebnis zählt das Votum der unverwechselbaren Einzelpersönlichkeit bloß in seiner zufälligen Übereinstimmung mit den Stimmen vieler anderer und hat um so mehr Gewicht, ein je kleinerer Bruchteil es in der Gesamtsumme gleicher Stimmen ist.

Das Kollektiv „der Wähler“ entsteht nämlich nicht daraus, daß viele Leute ihre Sorgen und Interessen zusammentragen, vergleichen, verhandeln, so verallgemeinern und sich auf ein gemeinsames Vorhaben und Vorgehen einigen. So etwas gibt es in der bürgerlichen Demokratie noch nicht einmal als Ideal – mag sein, daß den Staatsparteien im „realen Sozialismus“ so etwas ähnliches vorschwebt, wenn sie zur Wahlvorbereitung eine ungeheure Diskussionskampagne anzetteln und ihr Volk zu Veranstaltungen bitten, auf denen der einzelne kaum ohne eine Stellungnahme zu den Programmpunkten davonkommt. Im Freien Westen jedenfalls hat der Bürger ein unveräußerliches Recht, sich um alles oder gar nichts zu kümmern. Es soll gar nichts stattfinden, was einer gemeinsamen Beratschlagung und Beschlußfassung der zur Wahl gerufenen „Basis“ auch nur entfernt ähnlich sähe. Der Konsens soll eine rein zufällige Angelegenheit sein, die sich auf die denkbar äußerlichste, begriffsloseste Weise ergibt, nämlich durch das Addieren von Millionen freier, gleicher und geheimer Voten, und auf die man einen Wahlabend lang mit abnehmender Spannung wartet.

Ausdrücklich getrennt von allen einzelnen mit ihren – zur Privatsache herabgesetzten – Urteilen und Bedürfnissen und vergemeinschafteten Interessen und Absprachen findet die rein von oben veranstaltete Vereinigung der Bürger zum „eigentlichen“ Souverän statt.

Dessen Auftrag, auf den die gewählte Regierung sich beruft, ist dementsprechend eine reichlich einsilbige Sache. Ihr Inhalt kommt eben gar nicht durch die vielen Stimmzettel zustande, sondern liegt ganz in den Angeboten, die der Wähler zu bejahen oder zu verwerfen, die er aber noch nicht einmal in Auftrag gegeben hat. Die Allgemeinheit der Wahlalternativen und sonst nichts garantiert ihm, daß die eigenen streng geheimen Wahlüberlegungen und -entscheidungen im Endeffekt schon das Maß an Allgemeinheit aufweisen werden, ohne das die Abgabe von einer unter vielen Millionen Stimmen selbst dem Gutwilligsten als hoffnungsloses Lotteriespiel erscheinen müßte.

Den Inhalt der ihm vorgelegten Alternativen braucht der Wähler dabei noch nicht einmal zu kennen; die geheime Wahlstimme läßt da keine Unterschiede hinsichtlich des jeweiligen Informationsstandes zu – eine für Intellektuelle immer wieder überraschende Banalität. Es liegt ohnehin wieder ganz bei den Urhebern der alternativen Wahlangebote, welchen Inhalt das zusammengezählte Kollektivvotum beigelegt bekommt. Wer gewonnen hat, besitzt auch die Kompetenz, darüber zu befinden, was der Wähler „eigentlich“ gemeint hat. Das ist der demokratische Regierungsauftrag: frei zu entscheiden, worauf der erteilte Auftrag lautet.

II.

Der mit dem Wahlakt vollzogene Beitritt zum „eigentlichen“ Souverän der Demokratie hat nicht bloß mit einer Verallgemeinerung der wirklichen Anliegen der einzelnen nichts zu tun; diese höchst abstrakte Leistung steht auch völlig unverbunden neben den Verfahrensweisen, mit denen ein moderner Mensch sich der praktischen Durchsetzung seiner Interessen und der alltäglichen Bewältigung seiner Sorgen widmet. Das Antreten in der Firma oder der Gang zum Arbeitsamt, das Sparen und Schuldenmachen, Heirat und Familienärger, Miete und Einkaufen sind eine Sache; das Wählen ist eine andere und alles andere als ein allenfalls etwas umständlicher Kniff des alltäglichen Opportunismus. Die Gegenprobe erbringt denselben Befund: Wer die politischen Bedingungen, die seinem Interesse gesetzt sind, wirklich zu seinen Gunsten ändern will, der ergreift vernünftigerweise – falls er sie hat – ganz andere Mittel als die Chance, gelegentlich sein unterschiedsloses Millionstel zur kollektiven Wahlentscheidung beizusteuern: Bestechung, Beziehungen, eine Lobby und dergleichen bieten sich da an.

Nirgends in der Gesellschaft ist ein materielles Interesse auszumachen, für welches das Wählen das praktische Mittel zur Durchsetzung wäre.

Ein solches praktisches Interesse existiert ausschließlich auf seiten der Veranstalter, die sich die Addition vieler Einzelstimmen zum Wählerwillen einiges an Mühe und Geld kosten lassen. Die Parteien und Figuren, die in einer demokratischen Wahl konkurrieren, wollen gewinnen, um sich dann die Sorgen und Probleme machen zu dürfen, von denen ihre Programme handeln. Ihr Wille zur Staatsmacht hat in der Wahl sein zweckmäßiges Betätigungsfeld.

Für diesen Zweck ist das Wahlergebnis gerade in seiner begriffslosen Einsilbigkeit genau das Richtige. Es überantwortet an die Gewählten gar keine anderen praktischen Aufgaben als solche, die niemand anders definiert als diese selbst.

Dafür pflegt der Wahlsieger dem Wähler plakativ „Danke!“ zu sagen. Es gehört zum Wähler, daß er nicht weiter darüber grübelt, wofür man sich da bei ihm bedankt.

III.

In den Programmen und Wahlversprechen der Parteien begegnet dem Wähler vieles, was er überhaupt nicht kennt – schon gar nicht aus eigener Anschauung – und ohne politische Propaganda auch nie kennenlernen würde, und vieles, was ihm aus seinem kapitalistischen Alltagsleben geläufig ist; aber auch und gerade letzteres überhaupt nicht so, wie er im Alltag damit fertig zu werden hat. Die Perspektive ist eine ganz andere als die des privaten Zurechtkommens.

Alles stellt sich als Regelungsproblem dar: als Gegenstand zu fällender allgemeinverbindlicher Entscheidungen, in die alle möglichen und auch die entgegengesetztesten Standpunkte, Interessen und Sachzwänge einzubeziehen sind.

Wo z.B. der Strompreis praktisch nur das Problem aufwirft, die verbrauchten Kilowattstunden auch pünktlich bezahlen zu können, da unterbreiten Parteiprogramme die Sorge, den Geschäftssinn der Elektrizitätswirtschaft und die Kostenprobleme der industriellen Großabnehmer, die Strukturschwierigkeiten des Kohlebergbaus und die Absatzprobleme der AKW-Hersteller, die Außenhandelsinteressen und die Autarkieideale der nationalen Wirtschaftspolitik, und am Ende auch noch die Finanzkraft der privaten Haushalte und die dort fällige Entscheidung zwischen Einsparungen und höheren Preisen auf einen Nenner zu bringen. Wo Asylanten dem Menschen tatsächlich als harmlose Nachbarn, als interessante Kundschaft oder überhaupt nicht über den Weg laufen, da machen die Wahlkämpfer auf die Belastungen für den Wohnungsmarkt und die Sozialämter, auf die Gefährdung deutscher Rassereinheit und den gar nicht mehr aushaltbaren Unterschied zwischen der eigentlichen Rechtslage und den mißbräuchlichen Berechnungen der zuwandernden Flüchtlinge, andererseits den guten Ruf der deutschen Volksfreundschaft und Liberalität aufmerksam. Und so fort von der Rentenfrage bis zu den Russen.

Der Wähler wird unausweichlich aus der Froschperspektive seines wirklichen „Lebenskampfes“ emporgehoben und mit den Sorgen der Politik vertraut gemacht. Seine eigenen, die sich daneben erst einmal sehr geringfügig ausnehmen, mag er darin wiederentdecken – zu allen möglichen gegenläufigen und übergeordneten Ansprüchen und Rechten in Beziehung gesetzt; zurückgewiesen, aber auch ein bichen beachtet; also in politisierter Gestalt.

IV.

Die Bedienung des Wählers mit dem vornehmen Standpunkt des Überblicks und der allgemeingültigen Ordnung schließt nicht den Anspruch ein, daß er sich tatsächlich in die wirklichen Sorgen der Politiker hineindenken müßte, geschweige denn, daß er sich einen Begriff von den verschiedenen Staatsaufgaben zu machen hätte. Praktisch soll er zur Regierungstütigkeit ja gar nichts an Inhalt beisteuern, sondern alles denen überantworten, die darum konkurrieren; deswegen braucht er sie sich auch nicht theoretisch so zu eigen zu machen, als würde er zu irgendetwas um Rat gefragt. Den Parteien ist es nicht einmal recht, wenn übereifrige Bürger ihnen mit eigenen Weisheiten in ihre Wahlveranstaltungen hineinfachsimpeln.

Die politischen Probleme kriegt der Wähler nicht erklärt, sondern ans Herz gelegt, und zwar mit Hilfe eines Abstraktionsverfahrens, das zunächst einmal auf den formellen Gestus des allgemeinen Überblicks und des verantwortlichen Ordnens führt: auf moralische Prinzipien des Lenkens und Regelns überhaupt.

– Wo materielle Interessen ins Spiel gebracht werden, die der Wähler als seine eigenen oder die von seinesgleichen oder auch als diejenigen anderer Berufsstände und sozialer Gruppen kennt, da bieten sie in politischer Betrachtung das Material für die Auffassung, allgemeine gleichmäßige Beschränkung täte not, also für das Ideal des Gemeinwohls und darin das Ideal der Gerechtigkeit, dessen theoretische Anwendung auf alles und jedes ohne jedes Wissen am besten gelingt. Unter diesem Gesichtspunkt darf, ja soll der Wähler sich laufend an seine eigene materielle Lebenslage erinnert fühlen; denn wenn er über die das Urteil pflegt, er käme an allen möglichen Stellen mit seinem Einkommen und den zu zahlenden Preisen zu kurz, dann läßt er sich eben in Wahrheit nur immerzu von seinem tatsächlichen Leben an dessen politische Interpretation erinnern: an dessen Deutung als ein kleinerer Unterfall einer allgemeinen Verteilungs- und Lastenausgleichsproblematik.

– Gesellschaftliche Einrichtungen wie Verbrechen und Strafverfolgung werden dem Wähler als Belege für die Notwendigkeit und den wohltuenden Charakter eines Gewaltapparats unterbreitet, der sich der nicht endenwollenden Aufgabe des Aufräumens verschrieben haben soll.

– Zu anderen Errungenschaften, die über einen grundsätzlich guten Ruf verfügen, wird dem Wähler die Auffassung nahegebracht, daß sie zu einer soliden Gesellschaftsordnung ganz einfach dazugehören; weder das „inwiefern“ spielt da eine Rolle – außer eben in Gestalt der allgemeinen Phrase „Ohne geht es nicht!“ – noch erst recht irgendein praktisches Interesse, das damit zusammenhängen könnte. „Wir brauchen starke Gewerkschaften!“ ist so ein Imperativ, der weder den Vereinsegoismus des DGB wiedergibt noch den wirklichen Nutzen eines solchen Tarifvertragspartners für die Bundesregierung und Arbeitgeberverbände noch die Illusionen, die Solidaritätsmoral oder den Rückversicherungsstandpunkt eines Gewerkschaftsmitglieds, sondern den alle diese Standpunkte verknüpfenden Gesichtspunkt des irgendwie unentbehrlichen Ordnungsfaktors.

– Genauso abstrakt wird die ziemlich allgemeine Ruinierung der Gesundheit und anderer natürlicher Lebensbedingungen ins Wählerbewußtsein gehoben, nämlich um sie anderen Dingen von Gewicht, der Technik z.B., gegenüberzustellen, ein Dilemma zu konstruieren und zur Deutung von Schäden, die ein wohlgeordnetes Gemeinwesen anrichtet, die Kategorie des Sachzwangs einzuführen.

– Die wirklichen Sachzwänge, die im Geld vergegenständlichte Herrschaft kapitalistischer Interessen über die Gesellschaft, werden dem Wähler erst recht nie erläutert, sondern mit der schlichten Dialektik nahegebracht, daß ein jeder für all das sein müsse, wovon er abhängt: für Arbeitsplätze also und den Geschäftserfolg derer, die sie einrichten und auch wieder abschaffen. Das formelle Ideal, daß dies immerzu gelingen möge, heißt Aufschwung; eine Namensgebung, die schon die Nachfrage, wer oder was da „aufschwingt“, verbietet und reine Zustimmung ausdrückt.

V.

Damit der Wähler die Lage so sieht, dafür genügen die Gewohnheiten des moralischen Räsonierens: Neid, Rechtsbewußtsein, Ordnungsfanatismus, Durchblick, Unterwürfigkeit. An politischer Sachkenntnis reicht eine Vorstellung davon, daß die Politiker für alles das und noch mehr zuständig seien und deswegen Minister werden wollen. Die Kenntnis der Staatsaufgaben in Form eines konkurrierenden Nebeneinanders von Regierungsposten garantiert schon, daß der Wähler den politischen Schluß zieht, auf den es ankommt, den Schluß von dem Katalog der zu bewältigenden Probleme bzw. von der Existenz eines solchen Katalogs auf erstens das Subjekt, das diese Probleme eigentlich hat – „wir alle“ und vor allem „unsere“ Regierung -, zweitens auf den Maßstab für gerechte, ordentliche, sachliche, zukunftsweisende Lösungen – die Vorbildlichkeit des Vaterlands, das „wir“ bevölkern -, drittens auf die entscheidenden Bedingungen und das Universalmittel der Problembewältigung – eine wirklich souveräne, von niemandem behinderte Staatsmacht.

All die leicht faelichen moralischen Idealisierungen des politischen Geschäfts, die der Wähler mitbekommen soll, erweisen sich als Bebilderungen eines allerobersten Prinzips der moraIischen Prinzipienreiterei: des gebieterischen Rechts der Nation, das wie eine Pflicht der Regierung betrachtet gehört.

Diesem Standpunkt soll der Wähler beitreten, ohne sich andererseits allzu verbindliche Vorstellungen darüber zuzulegen, wie er denn „sein“ Deutschland, Österreich oder Dänemark gerne hätte. Für den Inhalt sorgen schon die konkurrierenden Politiker; sie wollen ja das Mandat dafür, die „nationale Sache“ zeitgemäß zu definieren. Dafür liefern sie dem nationalen Stammtischgerede seine Themen, geben ihm recht oder weisen es – eben als“bloßes Stammtischgerede“ – in die Schranken, setzen manches Problem auch wieder ab von der nationalen Tagesordnung usw. So wird der Wähler für eine Staatsaktion motiviert, deren Zweck und ganzes Ergebnis darin besteht, die Gewählten von irgendwelchen Anträgen und Ansprüchen ihrer „Basis“ freizusetzen: Er wird animiert, sich theoretisch ins politische Geschäft einzumischen, sich praktisch wie theoretisch gleich wie herauszumischen und die Zuständigen machen zu lassen.

Der pure Staatsname, auf den der von den politischen Konkurrenten ausgebreitete Problemkatalog sich vollständig zusammenzieht, ist für die Anstiftung zu diesem Ermächtigungsakt die optimale methodische Kategorie. Er bietet nämlich die enorme Bequemlichkeit, daß er alles und nichts bedeutet: Er gibt das Interesse der Staatsgewalt an ihrem Erfolg als verbindlichen Standpunkt an, ohne auch nur andeutungsweise verbindliche Festlegungen über den versprochenen Gebrauch der Staatsgewalt zu treffen, der ja sowieso und durch die Wahl erst recht nie Sache der regierten Bürger wird.

Die Prüfung, zu der ein wahlberechtigter Bürger aufgerufen ist, betrifft von vornherein nicht das Amt und den Inhalt des Regierens. Sie befaßt sich, ganz Spiegelbild der im Wahlkampf verhandelten Angebote, ausschließlich mit Übungen in Personenkult.

Und sie richtet sich allein an der Frage aus, welches Vertrauen wem aufgrund seiner Selbstdarstellung gebührt.

VI.

Sache des Wählers ist die Abwägung, ob und inwieweit ihm die Parteien und deren konkurrierende Mannschaften für die Bewältigung der Aufgaben einleuchten, die, wie diese selbst behaupten, „Deutschland!“ stellt. Dabei ist einerseits keine Detailaussage eines Politikers davor sicher, von einem Wähler als Beleg dafür herangezogen zu werden, daß die Nation im Falle seines Wahlerfolgs schöner aussähe bzw. ein Stück weiter zugrunde ginge. Auch da liegt die Uberzeugungskraft aber nie in der „Sachaussage“ als solcher, sondern auf einer sehr viel höheren methodischen Ebene. Wenn es schon darum geht, die Nation dem einen oder anderen Hauptveranstalter anzuvertrauen, dann muß die Qualifikation der Konkurrenten auch entsprechend grundsätzlich in Betracht gezogen werden.

Viel wichtiger als ein schlauer Vorschlag in der einen oder anderen Sache ist da die Existenz eines Programms, in dem sämtliche anerkannten Problemfelder abgehakt werden. Darin beweist sich Kompetenz. Einen neuen nationalen „Regelungsbedarf“ zu entdecken und für dessen Aufnahme in den Problemkatalog staatlicher Zuständigkeit zu werben, ist die Chance für Protestparteien – die sich andererseits „Regierungsunfähigkeit“ vorwerfen lassen müssen, solange sie ihre Spezialentdeckung noch nicht mit sämtlichen anderen Sachzwängen und zu behebenden Ungerechtigkeiten zusammengebracht haben. Statt einem neuen Problem tut es aber auch die Durchsetzung einer neuen Phrase, die den Idealismus des Problemlösens in gelungener Form beschwört. Von der „Zukunft“ bis zur „Geschichte“, von „Nation“ bis „Nachbarschaft“ tobt dann der Parteienkampf um die „Besetzung der Begriffe“, darum also, dem Wähler zu jedem edel klingenden Mist die Assoziation des Parteinamens anzugewöhnen.

Politische Kompetenz bewährt sich jedoch nicht bloß in lückenlosen Programmpapieren; sehr viel wesentlicher besteht sie in der Kunst der Durchsetzung dessen, was eine Partei für die Nation wichtig findet. Diese Kunst ist zwar das platteste Ding von der Welt; wenn eine Partei die Mehrheit bekommen hat, brauchen ihre Parlamentarier nur noch aufs richtige Kommando hin mit „Ja“ oder „Nein“ zu stimmen; und ohne Mehrheit hilft die beste Kunst nichts fürs Durchsetzen. Deswegen ist aber gerade Handlungsfähigkeit die haargenau passende Abstraktion, um den leeren Schein einer sachgemäßen Prüfung der Regierungsgeschäfte – völlig jenseits jeder, und sei es falschen, Beurteilung der vollbrachten Taten – zu erzeugen. Einen Handlungsbedarf verpennt zu haben, gilt als Vorwurf ganz unabhängig von der Sache, in der da, egal wie, hätte „gehandelt“ werden sollen. Auf derselben Ebene schlagen ein „Tunix-Kanzler“ und seine Leute zurück: Sie waren überall „vor Ort“, besitzen für Umweltkatastrophen im Nu einen eigenen Minister; und vor allem beuten sie den Vorteil aus, daß ihre Regierungsgeschäfte allemal eine tägliche Nachricht hergeben. Tun sie das nicht, so beschimpft die Regierung nicht bloß die Journalisten, was dann spätestens zu Schlagzeilen führt, sondern macht auch schon mal sich selbst den Vorwurf, sie würde ihre Tätigkeit zu unauffällig verrichten und nicht gut genug verkaufen. Das methodisch geschulte Wählerbewußtsein nimmt Anteil an diesem interessanten Problem und begreift es vor allem als überzeugenden Beweis dafür, daß in Wirklichkeit unglaublich viel und intensiv „gehandelt“ worden sein muß. Dagegen darf dann wieder ein vornehmes Intellektuellenblatt die kindische Aufrechnung der Arbeitsstunden des Kanzlers präsentieren und ihm Faulheit oder Fleiß nachweisen…

Das Kriterium der Handlungsfähigkeit gibt dem Wähler nicht bloß den wirksamen Schein eines Beurteilungsmaßstabs für die konkurrierenden Politiker an die Hand, sondern vor allem einen Hinweis auf die Pflicht, die er als Wähler zu erfüllen hat, und auf die Fehler, die er dabei machen kann. An seinem kollektiven Votum liegt es nämlich, wie bequem eine gewählte Mannschaft ihre nötigen Mehrheiten zusammenkriegt. Dieses Regierungsinteresse soll der Wähler sich als das Problem der (Un-)Regierbarkeit der Nation zu Herzen nehmen und erstens überhaupt, zweitens eine hinreichend große Partei, also drittens und überhaupt die richtige ankreuzen.

Wo er mit seinem verantwortungsbewußten Kreuz auf alle Fälle richtig liegt, kann der Wähler den Erfolgskurven entnehmen, die er – auch in Gestalt eines “ repräsentativen Querschnitts“ durch ihn selbst – den konkurrierenden Parteien und Figuren beschert.

Deren Steigungswinkel gibt Auskunft darüber, wo man als Wähler am meisten für die Regierungsfähigkeit der Gewählten tun kann, eventuell aber auch etwas gegen allzu absolute Mehrheiten unternehmen muß. Auf Gewinner zu setzen, empfiehlt sich für den Wähler allerdings allemal schon deswegen, weil die Nation einem Verlierertyp nicht anvertraut werden darf. Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich der Wähler immerhin auch von Kandidaten beeindrucken, die sogar nach einer Niederlage um so frecher auf ihren Sieg setzen, den Daumen hoch oder zwei Finger gespreizt halten und damit jedem, der sie wählt, die Genugtuung versprechen, den Mann eigenhändig gewählt zu haben, der dann hinterher das Sagen hat. Der Erfolgstyp, der an die Staatsspitze gehört, beweist sich eben nicht zuletzt im unerschütterlichen Glauben an den eigenen Sieg. Deswegen wird er nach der endgültigen Niederlage von seiner Partei auch ausgewechselt.

Auf alle Fälle wählt der Wähler die Regierbarkeit; und damit will er nicht Parteien und Kandidaten einen Gefallen tun, sondern seiner Nation, als deren fragloses Zubehör er sich gefragt weiß. Deswegen verlangt er von den Konkurrenten bedingungslose Überparteilichkeit. Nicht nur die Problemlösungstitel, die eine Partei auf ihr Moralkonto gutgeschrieben haben will, müssen danach ausgesucht sein. Außer Gütesiegeln wie „Gerechtigkeit“ oder „Zukunft“, gegen die nun wirklich kein Staatsbürger Einwände erheben wird, machen die Parteien ganz ausdrücklich die Polemik gegen Parteilichkeit und Konkurrenz zu ihrem Argument. Für alle dasein und versöhnen will jeder; Spalten kommt beim Wähler gar nicht an. Das ist deswegen der stereotype Vorwurf an den Gegner, wobei der Regierung wieder ganz von selbst ein völlig unverdienter Vorteil in den Schoß fällt. Ganz ohne Mäkelei an der Regierung kommt die Opposition nämlich nicht aus, auch wenn sie am Lauf der Dinge wirklich nur das Eine auszusetzen findet, daß nicht sie dafür verantwortlich zeichnet. Damit zieht sie sich aber allemal den Verdacht zu – den sie entsprechend heftig dementieren muß -, mit den Sachwaltern des nationalen Erfolgs auch diesen selbst verkleinern zu wollen und am Ende wirklich zu schädigen.

Dagegen muß die Opposition schon mit Beispielen dafür aufwarten, wie die Regierung neulich noch einem völlig partikularen Interesse nachgegeben, sich als bestechlich erwiesen oder umgekehrt, was genauso schlimm ist, Wahlgeschenke verteilt hätte.

Saubere Politik verlangt sonst nichts, das aber unbedingt: das Schauspiel einer Regierungstätigkeit, der niemand Gefälligkeiten außerhalb des national Notwendigen nachsagen kann.

Die Gesichtspunkte, nach denen die Parteien und Kandidaten vom Wähler unterschieden werden wollen, lauten also bei allen gleich. So spitzt sich die Unterscheidung und Entscheidung auf die Ermessensfrage zu, welcher Mannschaft am ehesten zuzutrauen sei, daß sie es mit ihrem Einsatz für die Nation ernst und ehrlich meint. Wählen wird zur Vertrauensfrage – oder, dasselbe in skeptischer Variante, zur Abwägung, wer bei der ohnehin absehbaren Vermischung parteiischer Interessen mit den Belangen der Staatsmacht noch am anständigsten und als „das kleinere Übel“ erscheint. Wo diese Reflexion angestellt wird, sind dem Wähler nämlich auch nicht die praktischen Sorgen des Alltags wieder eingefallen, sondern das Prinzip ihrer Po-litisierung: ein verletztes Gerechtigkeitsgefühl, das sich unter allen korrupten politischen Winkeladvokaten die ehrlichsten auszuwählen vornimmt.

Wo es in letzter Instanz um Glaubwürdigkeit geht, da kommen sämtliche Methoden des guten persönlichen Eindrucks zum Zuge. Der Wähler wird von Plakatwänden herab und aus Fernsehspots heraus von lauter netten, seriösen, dabei leutseligen, ebenso ernsten wie optimistischen usw. Leuten begrüßt; und lauter andere nette Leute – junge und alte, freche und gesetzte, Intellektuelle und Handwerker – versichern, was für einen unendlich guten Eindruck sie als nette Leute von den zur Wahl gestellten Kandidaten haben. Je mehr Anklang diese Werbung findet, um so deutlicher rangiert der Kandidat in Meinungsumfragen vor seiner Partei – und muß auf den Vorwurf aufpassen, er wäre entweder zu gut oder aber doch bloß ein vorgeschobenes Aushängeschild für die Machenschaften seines Parteiklüngels. Einen Erfolg hat mittlerweile das Experiment zu verzeichnen, das Glaubwürdigkeitsproblem grundsätzlich und alternativ zu lösen, nämlich per Geschlecht: Wo Parteien sonst ihre Kandidaten bloß als „unverbraucht“ empfehlen, also – ebenso wie mit der Gewöhnung – mit dem Überdruß an gewissen Visagen rechnen, da läßt sich dem Wähler durchaus auch einmal die Idiotie vermitteln, das weibliche Geschlecht als solches hätte seinen politischen Kredit noch längst nicht so überzogen wie „die Männer“. An die Kandidaten ihrer Wahl wollen Wähler schon glauben dürfen.

VII.

Vor netten Leuten kann der Wähler sich also, kaum steht eine Wahl an, kaum retten. Dabei weiß ein jeder irgendwie, daß das nicht wahr sein kann und er von nichts anderem umgeben ist als den Geschöpfen der wahltaktischen Berechnungen der Parteien. Das scheint seine Geschmackssicherheit aber nicht weiter zu irritieren. Die Parteien halten daher auch gar nicht mit ihren PR-Künsten hinter dem Berg. Sie schätzen im Gegenteil eine Anteilnahme des Wählers an ihrem Wahlkampf, die sich auf dessen taktische Finessen, auf die Inszenierung gelungener eigener Auftritte wie von Intrigen gegen den Konkurrenten, auf die methodische Verfertigung griffiger Parolen, auf das Für und Wider optimistischer wie skeptischer Umfrageergebnisse und dergleichen bezieht. Jedenfalls versorgen sie die Öffentlichkeit mit ihren Berechnungen bei der Formulierung von Wahlzielen, beschäftigen jeden Interessierten mit der Frage, ob ihnen die Mobilisierung der „Stammwähler“ gelingt und wie sich das mit der Gewinnung von „Wechselwählern“ vereinbaren läßt. Und am Ende halten sie es allen Ernstes und mit Recht für eine Werbung, wenn sie versichern, sie täten aber auch wirklich und energisch das, was sie ganz öffentlich und von niemandem bezweifelt wirklich und energisch tun: „Wir kämpfen um jede Stimme“, „Wir wollen so viele Stimmen wie möglich“, „Wir haben keine Stimmen zu verschenken“! Das verschaM dem Wähler die Genugtuung, daß sich um ihn bemüht wird.

Das grenzt schon an die Wahrheit über den Wähler: Er wird gebraucht, damit die Parteien an die Macht kommen. Wenn die ihn allerdings mit der Verkündigung dieser Wahrheit auf ihre Seite ziehen wollen, dann müssen sie sich ihres Adressaten schon längst absolut sicher sein. Sie behandeln ihn ja glatt gar nicht mehr als Adressaten, der die Parteien, wie auch immer, prüft und von diesen zu irgendeiner Auffassung gebracht werden müßte, sondern nehmen ihn mit seiner Stimmgewalt ganz unverfroren als ihren Wahlhelfer in Anspruch. Sie scheinen ihn gar nicht mehr agitieren (=in Bewegung setzen) zu müssen, sondern berufen sich auf ihn; sie sehen in ihm ihren „natürlichen“ Anhänger und sprechen ihn als Beobachter des Geschehens an, der ihren Standpunkt längst teilt – bis hinein in die Sorge um die gelungenste Manipulation des Wählers!

So ist er dann wirklich:

Der fertige demokratische Wähler ist ein Parteigänger, sonst nichts; er ist das Geschöpf des Anspruchs, den die Parteien an ihn stellen, nachdem er nun einmal ein Stimmrecht hat.

Er ist das so sehr, daß er es sich nie eingesteht, sondern lieber gleich vom Standpunkt der konkurrierenden Politiker aus über das Kollektiv räsoniert, zu dem er mit seinem Wahlzettel das Seine beisteuert. Zu den edleren Vergnügungen des Wählers gehört es – an Wahlabenden wird er entsprechend bedient -, über den Wähler als Stimmvieh mitzufachsimpeln, das auf gewisse Reize programmgemäß oder anders reagiert habe. Nichts anderes steckt in der seichten Frage, wer „es schafft“.

Mündig ist der Wähler also auch noch. Er begutachtet vor und nach dem Wählen nämlich die Chancen und Perspektiven der Gewählten, wobei er seinesgleichen als Stimmvieh kalkuliert und über den Grad an Freiheit räsoniert, der den Gewählten aus ihren Prozenten erwächst. So streift ihn schließlich doch noch die Ahnung davon, daß er zum Ermächtigen und zu sonst nichts da ist.

PS

Von Kommunisten lassen demokratische Wähler sich ungern die Wahrheit nachsagen, die ihnen doch so geläufig ist, wenn sie immer so tun, als hätten sie gar nicht das aktive, sondern das passive Wahlrecht wahrgenommen. Anläßlich solcher Kritik verfallen sie daher darauf, ihre totale Funktionalität für den Machtwillen der Politiker zu dementieren und auf höchst praktische und konkrete Interessen zu verweisen, um deren Förderung es ihnen beim Wählen doch irgendwie zu tun wäre. Eine Heuchelei ist das allemal; wo es um praktische Bedürfnisse geht, ist ja einem jeden klar, daß deren Befriedigung etwas völlig anderes verlangt als das Vertrauen auf ein bestenfalls sehr relatives Versprechen anderer, sich bei Gelegenheit im Parlament in der Debatte mit den wirklichen Machthabern dafür zu verwenden. Es ist allerdings eine besonders absurde Heuchelei, ein Interesse vorzuschützen, um – wer weiß wem! – die Ehrlichkeit einer Aktion, des Wahlakts eben, zu beweisen, in der man eine Figur von lächerlicher Selbstlosigkeit abgibt.

Literaturhinweis:

Zur demokratischen Willensbildung vgl. auch den Gegenstandpunkt: Parteien in MSZ Nr. 10/1986


(c) Verein zur Förderung des marxistischen Pressewesens e.V. München

 

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