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Renate Dillmann: Putin gegen die „regelbasierte Weltordnung“?

Von • Jun 5th, 2022 • Kategorie: Allgemein

Renate Dillmann: Putin gegen die „regelbasierte Weltordnung“?

 

Der laufende Ukraine-Krieg ist Anlass für ein paar grundsätzliche Überlegungen zum Zusammenhang von Geschäft und Gewalt.

 

Der russische Krieg in der Ukraine dauert jetzt hundert Tage. Tausende Menschen sind gestorben – Ukrainer wie Russen. Millionen Ukrainer sind auf der Flucht. Häuser sind zerstört, ebenso Brücken, Bahnlinien, Umspannwerke, viel materieller Reichtum.

Warum das alles? Dumme Frage, Putin natürlich! Er ist der „Aggressor“, der „brutal das Völkerrecht bricht“, schwerste Kriegsverbrechen direkt aus seinem Amtssitz anordnet, mit einem Wort:

Er ist der „böse Mann“, der diese ansonsten friedliche Welt massiv stört und deshalb niedergerungen werden muss. Russland muss „ruiniert werden“ (Baerbock), Putin und Lawrow als die Hauptverantwortlichen vor „Gericht gestellt“ (von der Leyen).

Und dann? Dann ist alles wieder gut? Sind Zweifel erlaubt an dieser Kinder-Vorstellung?

 

Verteidigung gut, Aggression böse?

 

Da ist zum Beispiel die Frage, ob „Aggression“ und „Verteidigung“ überhaupt sinnvolle Kategorien sind. In dieser Welt stehen sich immerhin Staaten gegenüber, die ihre Interessen auf dem gesamten Globus verfolgen und demzufolge auch „verteidigen“. Erinnern wir uns noch daran, dass die deutsche Freiheit „am Hindukusch verteidigt“ werden musste? Wieso eigentlich? Dass die Nato, die dem russischen Präsidenten Gorbatschow versprochen hatte, „not an inch“ nach Osten zu rücken, seit 1990 1000 Kilometer Richtung Moskau voran gekommen ist und ihr sowieso größtes Militärbündnis der Weltgeschichte dabei um 14 Staaten vergrößert hat – Staaten, die sie nun natürlich „schützen“ muss, wenn das dem von Verfolgungswahn befallenen „Irren im Kreml“ nicht ganz so gut gefällt.

 

Völkerrechtsbruch: Messen mit zweierlei Maß?

 

Kriegsverbrechen begeht immer nur die Gegenseite

 

Korrupte Oligarchen-Republik: Fackelträger der Freiheit

 

Der Zusammenhang von Geschäft und Gewalt

 

Kapitalismus, Staatenkonkurrenz und Krieg

 

Anerkennung und Handelsverträge: knallharte Machtpolitik

 

Globaler Kapitalismus

 

Die ernsthaften Störfälle der „regelbasierten“ Weltordnung: EU, Russland und China

 

Fazit: Die USA verteidigen mit allen Mitteln ihre globale Vormachtstellung

 

Die gültige, von den USA nach dem 2. Weltkrieg durchgesetzte „regelbasierte Weltordnung“ besteht darin, dass auf der ganzen Welt freier Handel und Kapitalverkehr zwischen konkurrierenden, souveränen Staaten stattfindet. Schon diese globale Geschäftsordnung enthält in sich notwendig die Gegensätze, die die Staaten dazu veranlassen, ihre ökonomische Konkurrenz durch eine geostrategische zu ergänzen und dafür prophylaktisch nach Kräften aufzurüsten.

Das Ergebnis dieser weltweiten Konkurrenz steht allerdings nach dem Willen ihres Begründers eindeutig fest: Sie muss dazu führen, dass die USA ökonomisch den Hauptvorteil aus ihr ziehen und politisch die unangefochtene Führungsmacht der Welt bleiben.

Ansonsten – so die amerikanische Deutung – wurde gegen „die Regeln“ verstoßen, falsch gespielt und den USA das, was ihnen „zusteht“, „geraubt“ (Mark Esper auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2020). Das darf nicht sein – die vielen Billionen Dollar, die die Vereinigten Staaten Jahr für Jahr ausgeben, um sich den Nutzen aus ihrer Weltordnung und ihre Vorrangstellung vor allen anderen Nationen zu sichern, sind daher ebenso nötig wie gut angelegt.

Der laufende Ukraine-Krieg soll dazu taugen, Russland wenn schon nicht final zu ruinieren, dann doch nachhaltig zu schädigen und ihm so sein (sicherheits-)politisches Anspruchsdenken abzugewöhnen. Er soll Deutschland seine billige Energie-Versorgung, sein Russland-Geschäft und seine Russland-Beziehungen nehmen und einen potenziell wichtigen Bündnispartner der Volksrepublik China schwächen.

Dass die Ukraine mit ihren Menschen das Schlachtfeld dieser Spezialoperation darstellt, ist ihr Pech. Andererseits: Aus der Perspektive des ukrainischen Staats ist das möglicherweise gar nicht so schlecht – denn so viel Milliarden Dollar und so viel weltweite Aufmerksamkeit hätte er sonst nie bekommen.

 

https://overton-magazin.de/krass-konkret/putin-gegen-die-regelbasierte-weltordnung/

4 Responses »

  1. Einwände zu Renate Dillmanns Theorie:

    https://nestormachno.alanier.at/imperialismus-heute-fortsetzung-juni-2022/#comment-49833

  2. @Crawl / Einwände zu Dillmann
    https://nestormachno.alanier.at/imperialismus-heute-fortsetzung-juni-2022/#comment-49833

    „Staatsgewalten auch moderne, kapitalistische Staatsgewalten geraten nicht erst in einen Gegensatz zueinander, weil sie ihrem Kapital den Weg auf ausländischen Märkten bereiten wollen und sich deshalb mit ausländische Staaten ins Benehmen setzen müssen, um die Bedingungen für den Handel festzulegen. Staaten stehen sich ganz prinzipiell als Gewalten gegenüber, die über ein Territorium verfügen auf das ausschließlich die eigene Gewalt Zugriff hat.“

    Hier wird falscher Gegensatz zwischen der mit der Staateneinteilung einhergehenden,
    erst mal je für sich ausschließenden Verfügung über die sachlichen und personellen
    Ressourcen kapitalistischer Geschäftemacherei und wie diese per global unterstellter,
    einmal durchgesetzter Benutzungsweisen per grenzüberschreitender konkurrenzlerischer
    Betätigung der jeweils nationalen Geschäftskapitale erstens als Zugriffsmittel im
    Verhältnis zu den Konkurrenznationen eingesetzt, tauglich gemacht werden und zweitens
    zusammen mit den wechselseitig erpressten Zugangsbedingungen die Mehrung kapitalistischen
    Reichtums in einer Weise erfolgt, wofür dass Geschäftemachen in den nationalen
    Grenzen viel zu klein dimensioniert ist. Mit dieser Sorte Einvernahme fremden Territoriums
    samt Arbeitsleuten per Geschäft und Konkurrenz ist ein sich ausschließender
    Nutznieß aus den Reichtumsquellen auswärtiger Ökonomien implementiert.

  3. @ Karla

    Der falsche Gegensatz bestehe darin, dass doch von vornherein klar ist, dass es sich um einen kapitalistischen Staat handelt, also einen, der einerseits darauf achtet, dass fremde Souveräne sich nur per Erlaubnis an ihm bereichern, der aber andererseits in den Interessen seiner eigenen Kapitalisten von vornherein wegen deren Florieren grenzüberschreitend bei anderen Souveränen bestrebt ist, deren Schranken für das eigene Kapital auszuhebeln. (Ist das kompatibel zu deiner Ausführung? An der verstehe ich z.B. das „sich“ selber ausschließend in der letzten Zeile nicht.)

  4. Renate Dillmann: Der Kornkrieg

    Welthunger als Waffe
    Der Westen macht Russlands Krieg für eine internationale Hungerkatastrophe verantwortlich. Der Kornkrieg (Teil 1)

    Die »Tagesschau« meldet: »Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat Russland vorgeworfen, den Hunger in der Welt ›ganz bewusst als Kriegswaffe‹ einzusetzen. Russland ›nimmt die ganze Welt als Geisel‹, sagte Baerbock zu Beginn einer internationalen Ernährungskonferenz in Berlin. Baerbock kritisierte, Russland versuche die Schuld an den explodierenden Nahrungsmittelpreisen ›anderen in die Schuhe zu schieben‹, doch das seien ›Fake News‹. Die Regierung in Moskau trage allein die Verantwortung dafür. Russland blockiere Häfen und beschieße Getreidespeicher; es gebe auch keine Sanktionen gegen russische Getreideexporte.

    Ähnlich äußerte sich US-Außenminister Antony Blinken (…). Russland lasse ›zielgerichtet Lebensmittelpreise explodieren (…), um ganze Länder zu destabilisieren‹. Es gebe keinen anderen Grund für die steigenden Lebensmittelpreise weltweit als Russlands Blockade der ukrainischen Schwarzmeerhäfen sowie Beschränkungen eigener Ausfuhren durch Moskau, so Blinken weiter. Russland handle aus ›politischen Gründen‹.«¹ Vom gerade beendeten Außenministergipfel der G20 in Bali berichtet ebenfalls die »Tagesschau«: »Laut Aussage westlicher Offizieller hatte US-Außenminister Antony Blinken dem Russen zugerufen: ›Die Ukraine ist nicht euer Land. Ihr Getreide ist nicht euer Getreide.‹«²

    Stimmen diese Vorwürfe? Was sind Fakten, was sind Fake News? Was sind die Interessen der am Ukraine-Krieg beteiligten Parteien? Und – eine Frage, die in der besorgten Debatte gar nicht vorkommt – warum gibt es überhaupt soviel Hunger auf dieser Welt?

    »Giftiger Cocktail«

    In Moskaus »Geiselhaft«?

    Die Exporte der Ukraine

    Erfolgreich spekuliert

    Haltlose Vorwürfe

    Halten wir fest: Die zitierten Vorwürfe westlicher Politiker an Russland sind sachlich unwahr. Bezüglich der russischen Exporte unterschlagen sie die Wirkung der westlichen Sanktionen, während sie in bezug auf die ukrainischen die in Frage stehenden Weizenmengen und ihre Bedeutung nach oben aufblasen. Für die Blockade im Schwarzen Meer weisen sie die Verantwortung einseitig einer Kriegspartei zu. Die Bedeutung der Finanzspekulation an ihren (!) Börsen lassen sie schlicht ganz weg.

    Und eine weitere, naheliegende Frage kommt in der gesamten öffentlichen Debatte gar nicht vor: die Frage danach, warum in dieser Welt eigentlich so viele Menschen an Hunger und Mangelernährung leiden.

    Aus: junge Welt – Ausgabe vom 13.07.2022 / Seite 12 / Thema: Ukrainekrieg

    https://www.jungewelt.de/artikel/430674.ukrainekrieg-welthunger-als-waffe.html

    und

    Regelbasiert hungern
    Auf dem kapitalistischen Weltmarkt haben die Ökonomien der Länder der »Dritten Welt« keine Chance. Der Kornkrieg (Teil 2 und Schluss)

    Denkt man an die Ideologien, mit denen die Marktwirtschaft stets legitimiert wird, müsste man angesichts der anhaltend katastrophalen Hungerstatistiken zumindest irritiert sein: Marktwirtschaft soll ja nach Aussage ihrer Befürworter die »effektivste und innovativste Versorgung« zustandebringen, die die Menschheitsgeschichte je gekannt hat – während die sozialistische Planwirtschaft demgegenüber stets als »Mangelwirtschaft« verächtlich gemacht wurde und wird. Und sind die Länder der sogenannten Dritten Welt¹, die sich notorisch in diesen Statistiken wiederfinden, nicht inzwischen souveräne Staaten, die als unabhängige Akteure am Weltmarktgeschehen teilnehmen? Die also nicht mehr – wie noch zu Kolonialzeiten zugunsten der kolonialen Mutterländer – ausgeplündert werden, sondern zum eigenen Vorteil produzieren und verkaufen?

    Warum ändert sich an der miserablen Situation großer Teile der Bevölkerung in diesen Ländern so wenig? Dass deren Situation eher schlimmer als besser wird, zeigt die große und stetig zunehmende Zahl der Flüchtenden, von denen mehr und mehr ihre Heimat verlassen müssen, weil die Bedingungen für eine halbwegs auskömmliche ökonomischen Existenz immer schlechter werden.

    Kein Geld, kein Brot

    Nicht konkurrenzfähig

    Beim Westen in der Kreide

    Absolute Abhängigkeit

    Ein zynisches Spiel

    Es ist vor diesem Hintergrund ein wirklich gelungener Einfall, wenn sich die Protagonisten und Nutznießer dieser Weltordnung jetzt hinstellen und mit dem Finger auf Russland als »politischem Verantwortlichen« für die nächste sich anbahnende Hungerkatastrophe deuten – wie es die deutsche Außenministerin Baerbock und der amerikanische Außenminister Blinken mehrfach getan haben. Baerbock warf Russland vor, den Hunger in der Welt »ganz bewusst als Kriegswaffe« einzusetzen und »die ganze Welt als Geisel« zu nehmen; Blinken beschuldigte die russische Regierung, sie lasse »zielgerichtet Lebensmittelpreise explodieren (…), um ganze Länder zu destabilisieren«.⁸

    Ebenso gelungen ist es, wenn die westlichen Staaten heute China als »neokoloniale Macht« anklagen, weil es sich in »ihren« angestammten Hinterländern breitmacht, und vor dem Hintergrund der schäbigen Resultate jahrzehntelanger westlicher »Entwicklungspolitik« mit seinen Angeboten auf Wohlwollen stößt.

    China ist übrigens das einzige »Entwicklungsland«, das mit seinem Eintritt in die Weltmarktkonkurrenz tatsächlich reich und mächtig geworden ist – und darin ein erklärenswerter Sonderfall!⁹ Am inzwischen offen ausgerufenen Kampf gegen diesen Staat, der den etablierten Nutznießern des Weltmarkts heute auf Augenhöhe gegenübertritt, sieht man noch einmal die ganze Verlogenheit der herrschenden Entwicklungspolitik.

    Aus: junge Welt – Ausgabe vom 14.07.2022 / Seite 12 / Thema: Ukrainekrieg

    https://www.jungewelt.de/artikel/430602.ukrainekrieg-regelbasiert-hungern.html