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Online-Diskussion (Gruppe K) | 27.01.2021 | Schulen und Corona – Was man an dieser Debatte über die Aufgaben der Schule lernen kann

Von • Jan 19th, 2021 • Kategorie: Veranstaltungen

Online-Diskussion (Gruppe K)

 

Mittwoch | 27.01.2021 | 19:00 Uhr

Bei Discord auf https://discord.gg/379MtDhpP8

 

Schulen und Corona – Was man an dieser Debatte über die Aufgaben der Schule lernen kann

 

Die Schulen m ü s s e n offenbleiben, denn sie sind die „letzte Bastion“ – so hieß es immer wieder, bevor der aktuelle Lockdown kam. Und auch jetzt sollen die Schulen auf alle Fälle so früh wie möglich wieder geöffnet werden. Warum eigentlich? Alle wissen, dass die Öffnung der Schulen Infektionsrisiken mit sich bringt. Selbst wenn das für die Kleinen und Jüngeren nicht so problematisch ist, kann das Virus über sie in die Familien geschleppt werden. Und bei Lehrern sind durchaus immer wieder Coronafälle zu verzeichnen… Warum also dieses unbedingte Votum für den Präsenzunterricht?

Die wesentlichen Argumente dafür sind: Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit, Entlastung der Eltern, Reduktion der Gewalt in Familien, soziale Kontakte der Kinder. Das alles soll dafür sprechen, dass der Unterricht nicht im „digitalen Klassenzimmer“ stattfinden kann, sondern im „wirklichen“.

Diese Argumente wollen wir einmal kritisch prüfen. Sie verraten unserer Meinung nach nämlich einiges über diese Gesellschaft und über die Aufgaben, die den Schulen in dieser Gesellschaft zukommen.

 

Coronabedingt können wir uns dazu nicht im realen Leben treffen.

Deshalb werden wir Discord nutzen, um zunächst unsere Überlegungen zu diesem Thema vorzutragen und dann darüber zu diskutieren.

 

https://gruppe-k.org/

Scheduled Veranstaltungen

2 Responses »

  1. Schule und Corona (Teil 2): Präsenzschule zum Zweck der Bildungsgerechtigkeit

    Seit Monaten wird über Schulschließungen beziehungsweise -öffnungen diskutiert. Die vorgebrachten Argumente sind aufschlussreich über die Funktion der Schule in dieser Gesellschaft.

    Im Folgenden wollen wir uns mit der Begründung beschäftigen, dass es die Präsenzschule braucht um Kinder aus bildungsfernen Schichten nicht abzuhängen.

    Selten hört man so viele Stimmen wie jetzt, die sich um die Kinder der „sozial Schwachen“ sorgen; gerade FDPler und Leute aus der Wirtschaft machen sich enorm stark für die Chancen dieser Kinder, die eingeschränkt seien.

    Es wird angeführt, dass die Kinder

    • in kleinen Wohnungen leben, sich mit ihren Geschwistern ein Zimmer teilen (Wie solle man sich da konzentrieren?)
    • keinen Schreibtisch haben (Wo soll man arbeiten?)
    • keine Bücher im Haus sind oder Lehrmaterial wie Computer und Tablets für den Onlineunterricht (Womit soll man arbeiten?)
    • die Eltern bei Fragen nicht helfen können, geschweige denn, die Kinder überhaupt zum Lernen motivieren können. Nachhilfe können sich diese Familien ja sowieso nicht leisten (Wie sollen die Kinder überhaupt ans Lernen herangeführt werden?)

    Politiker, Journalisten und auch Wirtschaftsvertreter deuten also auf all die Notlagen der Unterprivilegierten, die es gibt. Offenbar wissen sie als Nutznießer dieser Verhältnisse, die an ihnen verdienen, beziehungsweise als „Verantwortliche“, die über sie regieren, darüber sehr gut Bescheid.

    Ihre Sorge dreht sich nicht darum, diese Zustände zu beenden. Alles, was an unschönen Lebensverhältnissen ins Feld geführt wird, soll ja gar nicht abgeschafft werden: Familien endlich in angemessen großen Wohnungen unterbringen, ihnen Geld für Schreibtische, Bücher und Tablets zuzugestehen – darum geht es nicht!

    Weder an den Zuständen des Wohnungsmarkts noch den Hartz-Sätzen soll gerüttelt werden. Sowohl den Notlagen wie deren Ursachen stehen Wirtschaftsvertreter wie Politiker ignorant gegenüber. In ihren Begründungen kommt das alles ja nur als Nachteil für den Bildungsweg dieser „armen, unterprivilegierten Kinder“ vor! Die miese Lage dieser Kinder für sich ist ihnen scheißegal.

    Bleibt allerdings noch die Frage: was ist denn nun eigentlich diese „Bildungsgerechtigkeit“, die so wichtig sein soll?

    Auffällig erst mal: Es ist von Bildungsgerechtigkeit, nicht von Bildung die Rede. Um diesen Unterschied zu erklären, ist ein Blick in unsere Schulen nötig:

    In der Schule wird das Lernen, also die Vermittlung von Bildung, als Leistungslernen praktiziert. Erst wird die Unterrichtseinheit in vorgegebener Zeit durchgeführt: Der Stoff wird präsentiert, die Schüler*Innen üben ein, dann kommt der Test oder die Klassenarbeit, der die Lernleistung bewerten soll und dann geht es – meist unabhängig vom Ergebnis – mit neuen Inhalten weiter. Die Klassenarbeit oder Klausur – so kann man dem Verfahren entnehmen – soll gar nicht die Mängel ermitteln, um sie zu beheben. Der Test schließt eine Unterrichtsreihe ab, sein Ergebnis ist die Bewertung der Schüler*In.

    Wenn es um Bildung allein ginge, dann würde man das Lernen nicht dem Diktat der Zeit nach Lehrplan unterwerfen, sondern nach Schülerbedarf etwas solange lernen, bis es verstanden wird. In der Schule kommt es aber offensichtlich auf etwas anderes an: An den Schüler*Innen werden Differenzen sowohl im Wissen als auch im Zeugnis regelrecht hergestellt. Die Differenzen im Wissen werden im Lauf der Jahre immer weiter akkumuliert, da die Lücken, die nicht geschlossen werden, größer werden, und einige Schüler*Innen immer mehr den „Anschluss“ verpassen.

    Warum ist das so organisiert? Das verweist auf die nächste Funktion der Schule für unsere Gesellschaft: Mit dem Zeugnis werden die Differenzen festgehalten; sie bestimmen die Zugänge zu weiterer Bildung (Sek 2, Uni) und damit letztlich die Berufskarrieren. Mit diesem Verfahren werden die Schüler*innen also verglichen, getestet, bewertet und sortiert; im Groben bestimmt das ihr weiteres Leben in der Einkommenskonkurrenz.

    „Gerecht“ ist das einerseits schon: Bildung ist kein „Privileg“ der Adligen oder Männer mehr. Aber Ausschluss, Selektion findet immer noch statt, nur unter einem anderen Auslesekriterium. Jetzt ist es nicht mehr der Familienname oder das Geschlecht. Jetzt wird das Wissen selbst zum Mittel der Selektion. Wirtschaft sowie Staatswesen brauchen ein mit einigem Wissen ausgebildetes Volk. Dass da die Erfolge in der Lernkonkurrenz der Maßstab der Selektion sind, ist nur folgerichtig für diese Gesellschaft: Alle Ressourcen sollen ausgeschöpft werden, die Lernkonkurrenz sucht die „Leistungsträger“, die „Besten“ aus den Jahrgängen aus (das sind nicht unbedingt die Kinder der Reichen!).

    Andererseits wird oft kritisiert, dass diese Chancengleichheit gar nicht richtig durchgesetzt ist. Nur wenige der migrantischen Kinder, Arbeiter- oder Hartzkinder schaffen das Abitur bzw. die Uni – im Unterschied zu Akademikerkindern etc., Das ist in der Tat so. Warum das so ist, ist allerdings auch kein Rätsel. Dieses Resultat kommt notwendig heraus, wenn man Kinder mit den eben beschriebenen Bedingungen (kein Arbeitszimmer, keine Ruhe, keine Eltern, die helfen können, als Migranten ohne Sprachförderung) in einen Vergleich mit anderen stellt, die über all das verfügen. Dann kommt es eben genau dazu: Wenn für (ökonomisch) Ungleiche das gleiche gilt, wird die Ungleichheit natürlich reproduziert.

    Das alles wissen die Bildungspolitiker natürlich. Deshalb gibt es ja auch einige Förderveranstaltungen (Deutsch-Nachhilfe z.B., damit Kinder nicht schon deshalb frühzeitig per Selektion raus fallen, nur weil sie kein Deutsch können). Aber im Grund läuft die Schule eben genau so – mit den absehbaren Resultaten der meisten Schüler in den sozial schwachen Vierteln. Wenn überhaupt was dran ist an dem ganzen Argumentieren mit der Bildungsgerechtigkeit unter Corona-Bedingungen, dann dass sich einige der Verantwortlichen fragen, ob ohne Präsenzschule nicht zu viele der armen Kinder vorzeitig abgehängt werden. Das wäre aus ihrer Sicht nämlich wirklich schade.

    Fazit

    Diejenigen, die mit dem Argument „Bildungsgerechtigkeit“ für die Präsenzschule plädieren und dabei auf die vielen Familien in materiellen Notlagen deuten, sind große Heuchler: Sie stören sich nicht an der Armut und den prekären Verhältnissen in den Arbeiterfamilien für sich, sondern sie beklagen all das als Hindernis für Bildungsgerechtigkeit.

    Die Wahrheit daran ist:

    Erstens wiederum ganz banal: Sie wollen, dass die Schulen Präsenzunterricht machen, damit die Eltern arbeiten können.
    Zweitens aber sorgen sich einige auch tatsächlich darum, dass Selektion und Ausschluss weiter richtig funktionieren. In der Lernkonkurrenz soll ganz gerecht ermittelt werden, wer die wirklich Besten sind, um so die „fähigen Köpfe“ für die Elitejobs raus zu filtern. Dabei soll auch unter Corona nichts schief gehen – so zynisch sind diese Sorgen eigentlich beschaffen – von wegen „die armen Kinder“!

    https://www.facebook.com/grppk/posts/900472974037072

  2. Schule und Corona (Teil 3): Zunahme von häuslicher Gewalt und Vernachlässigung von Kindern.

    Seit Monaten wird über Schulschließungen beziehungsweise -öffnungen diskutiert. Die vorgebrachten Argumente sind aufschlussreich über die Funktion der Schule in dieser Gesellschaft. Im Folgenden wollen wir uns mit der Begründung beschäftigen, dass offene Schulen unabdingbar seien, um die Zunahme häuslicher Gewalt und Vernachlässigung von Kindern in den Familien zu verhindern.

    Als ein weiteres Argument wird es so vorgetragen: Wenn die Schulen wieder schließen, nimmt die häusliche Gewalt und vor allem die Vernachlässigung der Kinder zu. Das wird vorgetragen, als würde es sich um eine Art Naturgesetz handeln oder um einen sozialen Automatismus. Und ja: die empirischen Erfahrungen aus dem ersten Lockdown bestätigen, dass es tatsächlich so ist.

    Etwas seltsam ist es natürlich schon, dass dieselben Leute, die Familie für enorm wichtig halten und sie als Ort des privaten
    Glücks beschwören, direkt Mord und Totschlag erwarten, kaum dass die Familie mal etwas länger als gewöhnlich zusammen ist.

    Wie geht das zusammen?

    Schon vor der Pandemie gehörten bekanntlich die Vernachlässigung und Verwahrlosung von Kindern sowie häusliche Gewalt zum Leben in Familien. Einrichtungen wie Frauenhäuser, Jugendamt und Kinderschutzzentren zeugen davon.

    Das muss zunächst verwundern.

    Auf der einen Seite gilt das Privatleben, also auch das Familienleben, als Zweck des Lebens. Hier geht es – endlich! Nach der Arbeit! – um die privaten Interessen: die Liebe und das Vergnügen. Wie kommt es dann aber eigentlich zu den Phänomenen
    Verwahrlosung und Gewalt in den Familien?

    Die Freizeit – die „freie Zeit“ also, die nicht durch die Notwendigkeiten des Erwerbslebens gekennzeichnet sein soll – ist meist gar nicht so frei. In der Freizeit muss allerhand erledigt werden, damit man am nächsten Tag wieder auf der Matte stehen und schackern kann. Es muss gekocht, aufgeräumt, geduscht, geputzt, geschlafen werden. Sind Kinder da, kommen weitere Aufgaben dazu. Und nicht nur mehr Zeit, auch mehr Geld ist nötig. In den meisten Familien heißt das: das Geld muss eingeteilt werden.

    Vernachlässigung ist dadurch vorprogrammiert: Mangels Zeit werden die Kinder ruhig gestellt, um währenddessen den restlichen Notwendigkeiten der Reproduktion nachkommen zu können. Kinder werden mit dem Fernseher, der Playstation, eventuell auch Beruhigungsmittel versorgt. Mangels Zeit werden Fürsorgetätigkeiten reduziert (nasse Windeln, das Zähneputzen findet nicht unter Aufsicht statt…). Mangels Geld und Zeit gibt es keine ausgewogene gesunde Ernährung, da sie günstig und schnell sein muss. Spiel und Spaß mit den Eltern ist bei Zeitmangel gegenüber den Notwendigkeiten sowieso das erste, was gestrichen wird.

    Nun zur anderen Seite: Dass es zu Konflikten und Streitereien kommt, ist auch vorprogrammiert. Je weniger Geld da ist, je kleiner die Wohnungen sind, in denen sich alle mit ihren Wünschen und Interessen auf den Geist gehen, um so mehr.

    Verschärfend kommt hinzu: Diese unvermeidlichen Konflikte behandeln die Beteiligten meist so, als wären sie doch vermeidbar und tragen sie als Schuldfragen aus: Der Mann ist schuld, weil er nicht genug verdient, sich nicht genug anstrengt.

    Umgekehrt: Die Frau ist schuld, weil Kindererziehung und Haushalt neben dem Halbtagsjob nicht ordentlich klappen, obwohl man selbst auf der Arbeit alles erträgt, damit die Liebsten es gut haben, aus den Kindern mal was Besseres wird oder wie all
    die Begründungen lauten. Wenn etwas nicht hinhaut, ist der jeweils andere schuld, weil er sich zu viel raus nimmt, zu wenig an die anderen denkt usw.

    Die Familienmitglieder werfen sich vor, dass der jeweils andere sich am Recht auf das eigene Glück vergangen hat. Der Übergang zur Gewalt ist dann nicht mehr weit.

    Für die Zustände in vielen Familien ist also nicht Corona verantwortlich. Es ist auch nicht einfach der Lockdown, der für häusliche Gewalt und die Vernachlässigung der Kinder herangezogen werden kann.

    Es sind die unzulänglichen Lebensbedingungen vieler (sub)proletarischer Familien, die aus derfamiliären Reproduktionsgemeinschaft eine Notgemeinschaft machen, in der Konflikte vorprogrammiert sind. Und es sind gerade die verlogenen Ideale der bürgerlichen Familien die aus dem Scheitern des häuslichen Glücks eine Schuldfrage machen…

    Und wie kommen die Schulen hier ins Spiel? Welche Lösung soll die Schule bieten?

    Geöffnete Kitas und Schulen ändern an den vorhin dargestellten Gründen für die Familiengewalt nichts. Allerdings stellen sie eine Art Kontrollinstanz dar. Erzieher und Lehrer bemerken Auffälligkeiten an den Kindern und können sie dem Jugendamt
    melden. Der Staat betätigt hier also mit seinem Kita- und Schulsystem eine Art sozialer Kontrolle, wenn er die Kinder, die er den Familien überantwortet hat, nicht unüberwacht lässt. Offenbar weiß er durchaus darum, wie prekär und zerstörerisch die
    Verhältnisse in diesen Familien sind; je ärmer, je mehr. Daran will er auch gar nichts ändern, ist doch gerade die Billigkeit und Produktivität der Arbeiter*innen ebenso wie die möglichst kostengünstige Verwaltung der Sozialfälle, die dabei notwendigerweise stets entstehen, das Mittel für das Wirtschaftswachstum der Nation.

    Aufgabe der Kitas und Schulen ist es genau deshalb aber, die notwendig auftretenden Fälle familiärer Gewalt zu melden, damit die staatlichen Behörden rechtlich und sozialpolitisch damit umgehen. Dass diese Funktion in der Pandemie ausfallen könnte, wenn die Präsenzschule ausgesetzt wird – das ist der wahre Kern Sorge um Vernachlässigung der Kinder und häusliche Gewalt unter Corona-Bedingungen.

    Fazit:
    In den meisten Familien dieser Gesellschaft gibt es Probleme mit Zeit und Geld. Es kommt zu Formen von Vernachlässigung, Verwahrlosung, familiärer Gewalt. An den Ursachen für diese ganze Scheiße will niemand etwas ändern – auf die Idee kommt
    anscheinend überhaupt niemand mehr! Aber die Folgen sollen irgendwie unter Kontrolle gehalten werden – und dafür fehlen dann die Kontrollinstanzen Erzieher, Lehrer, Schulsozialarbeiter, die dem Jugendamt Bescheid sagen können. Eine sehr
    schöne Auskunft darüber, wie es hierzulande zugeht!

    https://www.facebook.com/grppk/posts/907446986673004