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Abschrift des Interviews mit Peter Decker zur Oktoberrevolution

Von • Feb 7th, 2018 • Kategorie: Allgemein

Interview mit Peter Decker zum Artikel im GSP 2/2017: „100 Jahre Russische Oktoberrevolution. Rückblick auf einen unverzeihlichen Fehler“ 

 

Audio-Datei abrufbar unter:

http://www.freie-radios.net/85573

 

Text als PDF.

 

PD: Einen Fehler rechnet man einer anderen Richtung immer erst dann vor, wenn man irgendetwas für sie auch übrig hat. Einem wirklichen Feind rechnet man nicht vor, dass er bei seiner Sache etwas falsch macht, sondern da ist die Sache falsch. Insofern ist bei dieser Sache zu reden von einer ersten Gemeinsamkeit, wenn man den Russen und ihren späteren Bündnispartnern einen unverzeihlichen Fehler vorrechnen will. Das, was sie erstmal gut gemacht haben, oder was sie gemacht haben, ist, dass sie wirklich eine Revolution durchgeführt haben. Das ist etwas anderes als ein Regierungswechsel oder als ein Machtwechsel, wenn eine neue Politikermannschaft die Kommandohöhen des Staates erobert und dann meint, anders Politik zu machen.

Denn die Oktoberrevolution hat mit der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln auch die gesamte Privatmacht des Eigentums zerstört. Und damit die Macht, die die Bevölkerung über ihre Abhängigkeit einerseits von der Beschäftigung durch die großen Eigentümer, andererseits die Gesellschaft durch ihre Abhängigkeit von dem Produkt der privaten Wirtschaft immer wieder zur Unterordnung unter die Gesetze des Kapitals zwingt. Das sieht man jetzt wieder in Venezuela. Da ist auch ein Machtwechsel gewesen. Die Politiker dort wollen auch anders regieren, aber im Grunde gehen sie daran kaputt, dass sie die Privatmacht des Eigentums nicht beseitigt haben. Das hat die russische Revolution geschafft und das ist erstmal ein Ding. Die Revolutionäre haben nämlich auf diese Weise erst die Freiheit hergestellt, sich das Wirtschaften jetzt so herzurichten, dass es wirklich das Mittel derer ist, die die Arbeit machen, dass die ihren Nutzen davon haben und dass auch nichts anderes mit dem Wirtschaften gemacht wird, als was für den Nutzen und die Bequemlichkeit der berühmten werktätigen Bevölkerung nötig ist. Das wäre die gute Sache.

Das Unglück ist, dass sie mit ihrer Freiheit nichts Gescheites anzufangen wussten. Sie haben, ohne dass die Sachgesetze des Kapitals noch gelten, ohne dass sie eine politische Not hatten, mit ihrer politischen Macht über die Wirtschaft eine Rechnungsweise wieder eingeführt, die sie tatsächlich vom Kapitalismus kopiert haben. Zuerst befreien sie die ganze Gesellschaft vom Zwang des Kapitals und dann richten sie eine Wirtschaft ein, in der sie alle von Marx damals benutzten Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie wie Rezepte für das richtige Wirtschaften missverstanden haben. Dann sagen sie, sie wollen jetzt endlich das Wertgesetz bewusst anwenden, den Mehrwert bewusst gestalten. Bis hin zu Kapital und Zins haben sie alles wieder eingeführt und zwar nicht als Macht des Kapitals, sondern als vom Staat der Wirtschaft auferlegte Zwecksetzung. Und das ist die üble Seite dieser Revolution und unverzeihlich ist der Fehler, weil er nicht mehr korrigierbar war und nicht mehr korrigiert worden ist, sondern bis zum bitteren Ende, bis Gorbatschow und dem freiwilligen Tod dieses Systems mit allen Konsequenzen ausbuchstabiert worden ist.

 

Frage: Bleiben wir vielleicht ein bisschen bei dieser Rechnungsweise des Kapitalismus. Gibt es denn Ursachen dafür, warum man ausgerechnet darauf kommt, wenn man jetzt die Macht des Kapitals bricht, dann ausgerechnet seine Form der Rechnungsweise wieder einzuführen?

 

PD: Also ich würde sagen, die Ursache ist keine sachliche Not. Die Ursache ist wirklich eine unzureichende, verkehrte Kapitalismuskritik, die sich die „1. Internationale“ aus den Schriften von Karl Marx herausgelesen hat. Die hat den Kapitalismus als ein ungerechtes Verteilungssystem angegriffen und war der Meinung, der Lohnarbeiter wird hier, weil der Kapitalist die Macht hat und weil der Kapitalist den ganzen Überschuss für sich behält, arm und elend gehalten, und diese Verteilung wollten sie korrigieren. Was sie nicht gesehen haben ist, dass mit der Stellung des Arbeiters zur Produktion eigentlich über die Verteilung schon entschieden ist, ehe man die Verteilungsfrage stellt. Wenn die Produktion eine ist, die Gewinn erzeugen soll, dann ist der Arbeiter automatisch Produktivitätsquelle, Reichtumsquelle und Kostenfaktor, wenn es um den Gewinn geht. Wenn ich die Wirtschaft so einrichte, dass ich sage, es soll mehr Geld herauskommen als hineingesteckt worden ist. Und das haben die Russen neben dem, dass sie eine Planwirtschaft gemacht haben, (auch) eingerichtet. Also haben sie geplanterweise verlangt, es soll mehr herauskommen als hineingesteckt wurde. Dann ist die Stellung des Arbeiters definiert. Er ist eben Reichtumsquelle und Kostenfaktor zugleich. Dann ist der Reichtum aber auch definiert als etwas, was vom Wohlstand der Beschäftigten unterschieden ist. Dann ist der Reichtum ein Produktionsergebnis, das im Realen Sozialismus erst einmal dem Staat zufällt, der das dann übrigens total wohlmeinend mit lauter sozialen Gesichtspunkten ans Volk verteilt.

 

Frage: Die Redaktion des Gegenstandpunkts schreibt in dem Artikel, dass die Realsozialisten sich durchaus die Abschaffung des bürgerlichen Klassenverhältnisses vorgenommen haben, dies auch umgesetzt haben, aber dieses Klassenverhältnis verschwindet nicht ersatzlos. Was tritt denn jetzt genau an seine Stelle?

 

PD: An seine Stelle tritt -und insofern durchaus die Verwirklichung dieser verkehrten Kapitalismuskritik- eine politische Herrschaft ein Staat, der die ganze Ökonomie der Nation zum Mittel seiner Verfügungsmacht macht, die er sozial einzusetzen gedenkt. Aber auf die Weise trennt man die Arbeitenden von ihrem eigenen Produkt. Da müssen sie erst einmal opfervoll für den Staat arbeiten, etwas abliefern und dann müssen seine, des Staates, Kassen gut gefüllt sein. Erst dann kann er Wohltaten nach seinem Gesichtspunkt austeilen. Auf diese Weise schafft man sich natürlich auch lauter Widerstände in der Arbeit. Wenn man das so einrichtet, dass der Reichtum gar nicht denen in erster Instanz zugute kommt, die ihn erarbeiten, dann hat man natürlich auf der anderen Seite auch den Arbeitnehmer mit in das neue System importiert, der seinerseits für Lohn arbeitet und dann auch aufpasst, dass er sich dafür nicht mehr verausgabt als nötig.

Um das an einem Beispiel deutlich zu machen: Der Widerspruch und Gegensatz von Planwirtschaft, die einerseits eingerichtet wird und andererseits durch eine Geldrechnung überwölbt wird: Nehme ich eine Planwirtschaft, dann findet eine Gebrauchswertplanung statt, wie viele Kartoffeln eine Nation braucht, wie viele Tonnen Stahl sie braucht, wie viel Tonnen Kohle sei braucht usw. Und wenn ich dann sage: Gut, das wird auf die Firmen oder auf die Betriebsstätten verteilt und dann wird ein stufenweiser Aufbau der Produktion, unten stehen die Rohstoffe, oben stehen die Computer, aufgebaut. In so einem System ist es vollkommen uninteressant und eigentlich schädlich, wenn an irgendeiner Stelle mehr produziert wird, als der Plan vorsieht.

Aber die Russen haben nebeneinander eine Planwirtschaft gemacht und immerzu von ihren Leuten Planübersoll und Planübererfüllung gewünscht und gefordert. Da merkt man, vom Standpunkt der Gebrauchswertproduktion ist eine Planübererfüllung eine Störung. Es gibt keinen Grund, wozu es gut sein soll, mehr Kartoffeln zu haben, als was man haben will und braucht. Aber wenn man natürlich das Ganze als Geldrechnung anlegt -ich weiß gar nicht, was sie hinterher aus den Kartoffeln dann an Geld gemacht haben- dann ist es schon wieder wie im Westen: Mehr ist immer mehr und vollkommen egal, wie das gebrauchswertmäßig in die Proportionalität der Produktionssphären und Arbeitsteilung hereinpasst.

 

Frage: Der Staat im Realsozialismus, so heißt es im Artikel, versteht sich als Dienst an der Gesellschaft. Wenn er diesen Reichtum sich zwar erst einmal aneignet, aber dann im Interesse der Leute unter ihnen wieder verteilt, wieso heißt es dann an anderer Stelle des Artikels, dass im Realsozialismus sich ein neues System gesellschaftlich erzeugter Armut etabliert?

 

PD: Der Realsozialistische Staat wollte der ideale Sozialstaat sein. Er wollte, das merkt man und es ist doch die Schwäche dieser Kritik, er wollte endlich dem Lohnarbeiter sein Recht verschaffen, wo sie der Meinung waren, der Kapitalismus enthält ihm das vor. Dem Lohnarbeiter sein Recht zu verschaffen ist unkritisch gegen die Rolle des Lohnarbeiters. Wenn die Realsozialisten sagen, sie wollen das Arbeiterparadies sein, dann drücken sie eigentlich den Fehler richtig aus, den Arbeiter, dieses blöde Subjekt, das immerzu arbeitet, wollen sie nicht abschaffen, sondern sie wollen genau diesem Subjekt das geben, was der Kapitalismus ihm vorenthält: Soziale Sicherheit, gerechte Entlohnung und ähnliches. Und in diesem Sinn ist das die Staatsmacht die sich da hinsetzt.

Die Frage war, wieso System der Armut: Ganz generell: Wenn ich soziale Aufgaben vor mir habe, dann habe ich Armut vor mir, denn der Kommunismus wäre eigentlich die Produktionsweise, die soziale Aufgaben überflüssig macht, weil sie erst gar keine Armut erzeugt. Wenn ich aber erst mal die Lohnarbeiter als Mittel staatlichen Reichtums, der dann für soziale Aufgaben aufgewendet werden soll, als Lohnarbeiter, knapp halte, damit der Staat reichlich verfügbare Mittel für seine Wohltaten hat, dann habe ich zuerst mal den Menschen vom Reichtum getrennt. Und das ist es, was der Artikel sagt: ein neues System der Armut eingeführt. Es ist auch bekannt. Wenn man vom Westen auf die DDR geschaut hat, haben auch alle immer gewusst: Soziale Sicherheit gibt’s schon, arbeitslos werden kann man nicht. Aber geben tut es auch sehr wenig.

 

Frage: Der Staat in der DDR und auch anderswo im Realsozialismus hat ganz bestimmte Erwartungen an seine Bürger, also an die Beherrschten, gehabt. Kannst du vielleicht ausführen, inwiefern das mit dieser ganzen verkehrten Kritik zusammenhängt und mit der Einrichtung des Realsozialistischen Staates und seiner Ökonomie?

 

PD: Die hatten, davon war gerade ein bisschen die Rede, mit ihrem neuen Wirtschaftssystem eigentlich den Gegensatz von Individualinteresse und Gesamtnutzen nicht überwunden, sondern in neuer Weise installiert. Das schließt ein, dass sie von ihren Leuten einerseits verlangt haben, dass die dieses System als die Erfüllung ihrer sozialen Wünsche auffassen, andererseits von ihnen erwartet haben, dass sie sich total einsetzen für diesen sozialistischen Aufbau, für die Planerfüllung, für alles, was an Aufgaben für die Leute angefallen ist. Wenn es nicht die Wahrheit ist, dass man mit der eigenen Anstrengung auch den eigenen Nutzen steigert, indem man eine nützliche Produktion mitträgt, wie alle anderen sie auch mittragen, und damit den gesamten Nutzen herbeiführt, dann wird es zu einer riesigen moralischen Lüge: Sich für das Gemeinwohl einsetzen, obwohl der eigene Nutzen nicht zu sehen ist oder in der Ferne liegt oder ziemlich mager ausfällt.

Das ist ein bisschen die Quelle, die Behauptung einerseits, das wäre die Versöhnung aller Gegensätze und andererseits die Unwahrheit, dass es die Versöhnung eben nicht ist. Das ist die Quelle dafür, dass sie so arg viel Wert auf das Heldentum der Arbeit gelegt haben, auf den Stachanowisten, den Arbeiter, der Überarbeit zu seiner persönlichen Leidenschaft gemacht hat, und dass sie an die Arbeiter laufend Orden verteilt haben. Das zeugt alles von der Unwahrheit der Gleichung von individuellem Nutzen und Gemeinwohl und der Behauptung es wäre doch identisch.

 

Frage: Marx und Engels sind davon ausgegangen, dass ein Staat nach einer kommunistischen Revolution absterben würde. Aber in eurem Artikel macht ihr deutlich, dass der Realsozialistische Staat gar nicht darauf angelegt war, abzusterben. Wie kommt das?

 

PD: Das passt alles gut zu dem, was bisher schon gefallen ist. Es ist eine Sache, die politische Gewalt, die eine Revolution erobert, dafür einzusetzen, die Interessensgegensätze in der Gesellschaft überflüssig zu machen. Da ist das Wort „absterben“ auch sehr schön, weil es nicht die anarchistische Vorstellung ist, man tut ihn [= den Staat] weg, und dann gibt es keinen mehr, sondern es ist die Vorstellung: Man macht das Wirken einer Gewalt über die Menschen dadurch überflüssig, dass die Interessensgegensätze, wegen der es in der bürgerlichen Gesellschaft die Gewalt gibt und braucht, [nicht mehr existieren].

Der Bürgerliche Staat hat überhaupt kein Problem damit, dass er gewalttätig ist. Bei uns werden Wahlen damit gewonnen, dass man sagt, wir bieten dem Bürger mehr Innere Sicherheit, mehr Polizei, härtere Strafen usw. Der bürgerliche Staat hat mit der Gewalt kein Problem. Dieser [realsozialistische] Staat hatte mit der Gewalt ein Problem genau deswegen, weil er behauptet hat, er hätte alle Gegensätze überwunden. Tatsächlich hat er aber eine Ordnung eingerichtet – davon war die ganze Zeit die Rede – die neue Interessensgegensätze hervorbringt. Das macht die Sache erstaunlicherweise erst recht gewalttätig. Denn der realsozialistische Staat hat nicht das coole Verhältnis zum Zuschlagen, wie es der bürgerliche Staat hat. Der bürgerliche Staat hat seine Kriminellen und auf die wird aufgepasst und ‚draufgehaun’. Der realsozialistische Staat steht immer auf dem Standpunkt: So etwas darf es bei uns eigentlich nicht geben, denn wir sind doch die Versöhnung von allen Interessen, und wenn dann doch Gegensätze auftreten, je nachdem ob oben oder unten, dann ist der Staat sehr schnell dabei, das nicht als die Übertretungen, die zur Ordnung gehören zu behandeln, wie im Westen, sondern das sind dann Staatsfeinde, das ist Sabotage, das sind Antikommunisten und die werden dann eingesperrt. Insofern war der Staat nicht nur auf die Abschaffung des Gewaltverhältnisses nicht nur nicht angelegt, sondern er hat auch ein ganz besonderes Gewaltverhältnisses nötig gehabt, eines mit einem schlechten Gewissen.

 

Frage: Die Gewalt spielt also eine ganz spezifische Rolle innerhalb des Realsozialistischen Staates, wenn er dann mal etabliert ist. In welchem Zusammenhang steht das denn mit der Gewalt innerhalb der Revolution?

 

PD: Das würde ich hauptsächlich und in allererster Linie einfach erstmal trennen. Dass eine Revolution eine gewalttätige Angelegenheit ist, ist mehr oder weniger unvermeidlich und hängt ganz und gar davon ab, ob die Mächte, die die Gesellschaft bis dahin beherrscht haben, bewaffnet auftreten oder nicht, und ob die zahlenmäßig genug sind, so dass sie denen, die meinen, sie wollen sich diese Ordnung nicht mehr bieten lassen, die sie als gegen sich gerichtet erkennen, ob sie denen Widerstand leisten und einen Kampf abverlangen. Dass das auch blutig ist, ist eine Sache, die hängt ganz und gar an der Gewaltstätigkeit der alten Mächte. Und man kann bloß hoffen, dass in der Zukunft die Zahlenverhältnisse immer mehr, immer eindeutiger in die Richtung gehen, dass nur noch 7 Menschen die ganze Welt besitzen, so dass der ganze Rest dagegen ist. Aber, dass die mit Gewalt von ihrem Privileg verdrängt werden müssen, ist erstmal, glaube ich, keine Frage. Was ganz anderes ist es, wenn diese Gewalt hinterher in der Gesellschaft dauerhaft nötig ist. Dann zeugt das von dem, wovon bisher immer wieder gesprochen worden ist, davon, dass die Ordnung selber Interessensgegensätze erzeugt und ihre Logik nur durch Gewalt über die Gesellschaft durchsetzen kann.

 

Frage: Jetzt ist aber schnell dieser Gegensatz aufgemacht. Es gab den guten Lenin in der Oktoberrevolution, dem wurde der Bürgerkrieg aufgezwungen, und dann kam irgendwann das Ungeheuer Stalin, der hat seine Säuberungen gemacht und furchtbar viele Menschen ins Gulag gesperrt. Was hältst du denn von diesem Vorwurf der Gewalttätigkeit des sich herausbildenden Realsozialismus in den dreißiger Jahren?

 

PD: In so einer Revolution gibt es manche Wegbiegungen und wo man manche andere hätte wählen könnte usw. usw. Insofern war unter Lenin noch nicht alles fertig, wie es dann später war. Aber den grundsätzlichen qualitativen Unterschied mit: Lenins Revolution müssen alle vernünftigen Menschen wollen und Stalins Verfälschung derselben ist ein großes historisches Unglück. Das würde ich so nicht sehen, weil ich schon meine, es zieht sich der Grundgedanke in dieser verkehrten und mit Gewalt in die Tat umgesetzten Kapitalismuskritik durch. Und da gehören noch ein paar Unterpunkte dazu, die nicht bloß diese Moral auf der Seite der Werktätigen, von der vorhin gesprochen worden ist, betrifft, sondern ein bisschen auch noch deren Revolutionstheorie und die Theorie des sozialistischen Aufbaus, die sie da vertreten hatten. Die haben nämlich auch noch nicht nur in ökonomischer, sondern auch in welthistorischer Hinsicht den Marx fehlgedeutet. Sie hatten die Vorstellung, Kommunisten sind diejenigen, die ‚die ohnehin ablaufende Weltzeituhr’ am besten ablesen können, sie sind diejenigen, die wissenschaftlich jeden ihrer Schritte ableiten. Aber das ist einfach eine Lüge. Wissenschaftlich in dem strengen Sinn, wie man die Kapitalkategorien auseinander ableiten kann, wenn man das Kapital liest. In dem gleichen Sinn wissenschaftlich ist eine Revolution nicht. Da fallen Entscheidungen, werden Entscheidungen gefällt und die haben seit Lenin ihre Entscheidungen damit gerechtfertigt, dass sie das gegenwärtige Kräfteverhältnis, den Entwicklungsstand der Produktivkräfte, den Stand des Widerspruchs von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften etc. super präzise einschätzen und deswegen das Richtige tun. Auf die Weise ist dann die erfolgreiche Revolution zum Beweis für Lenins Genialität in der Einschätzung der historischen Situation geraten. Umgekehrt heißt das, dass sie ihre internen Auseinandersetzungen in der Partei überhaupt nicht vernünftig geführt haben, als: Machen wir das, hat es folgende Konsequenzen, machen wir jenes, hat es andere Konsequenzen. So eine Revolution im frühen Stadium ist von vielen Seiten angefeindet, die ist damit konfrontiert, dass sie in einem Land, wo vollkommen unentwickelte Produktivkräfte herrschen, im Wesentlichen war Russland ein Agrarland, das kaum die Städte ernährt hat, dass sie dort irgendwie ihr anders geartetes Wirtschaften einführen müssen. Das ist ein Umgang mit lauter Nöten und das ist auch nicht vorwerfbar. Aber dabei immer so zu tun wie, mein Weg ist der wissenschaftlich richtige und jeder, der den nicht mitmacht, ist ein Abweichler rechts oder links in der Partei, und als solcher immer schon halb ein Verräter der guten Sache. Das ist das, was innerhalb der Partei den politischen Streit so elend moralisiert hat und dann auch mit dazu geführt hat, dass er [= der Streit] mit so vielen Verhaftungen und Erschießungen durchgeführt worden ist. Die eine Linie behauptete, sie hat die wissenschaftliche Weisheit mit Löffeln gefressen und weiß genau, die historische Situation verlangt jetzt dieses und jenes und anderes nicht. Tatsächlich sind es relative Entscheidungen. Hätten sie das Relative ihrer Entscheidungen gesehen, wären sie um Welten vernünftiger vorgegangen und untereinander ein bisschen schonender.

 

Frage: Es gibt einige Vorhaben anlässlich der 100 Jahre, die die Oktoberrevolution her ist, sich umfangreich damit auseinander zu setzen. Der GegenStandpunkt hat es gemacht, hier bei Radio Corax machen wir das mit der Sendereihe, dann werden verschiedene Vortragsveranstaltungen angeboten. Da schließt sich einerseits die Frage an, was hältst du von dieser Erinnerungskultur in Bezug auf die Oktoberrevolution und dieser Geschichtspolitik, die damit betrieben wird? Und vielleicht im Besonderen gibt es jetzt gerade aus linker Perspektive oder [aus der Perspektive] derjenigen, die sich kommunistisch verorten, ein Bedürfnis sich in eine Tradition zu stellen. Was ist davon zu halten?

 

PD: Dazu will ich erstmal sagen: Von kommunistischer Erinnerungskultur ist nicht mehr zu halten, als von jeder anderen Erinnerungskultur auch: Sie ist die Praxis, eine Sache dadurch für wertvoll, gut, richtig zu erklären, dass man darauf verweist, das es sie schon ewig gibt. Es ist als Argument genommen das blödeste Argument, das man sich vorstellen kann: Es war schon immer so. Das ist für Kommunisten nicht besser, wenn sie sagen, sie stehen in einer Tradition. Das merkt man auch. Es gibt im Jahr 2017 versprengte Leute, die meinen, eine kommunistische Revolution wäre die richtige Sache. Schön, meinen sie es, dann sehen sie, wie wenige sie sind und sehen sie, wie wenig Anklang ihre Kritik in der Welt findet. Dann wissen sie, was sie für eine Arbeit vor sich haben. Aber wenn sie dann sagen, immerhin stehen wir seit 1917 in einer tollen Tradition – 100 Jahre ist es her. Dann wollen sie einfach diesen Schwindel der Erinnerungskultur auch für sich ausnutzen. Sie beanspruchen nämlich, sie stünden doch für mehr als ihren eigenen Willen und ihre eigenen Einsichten, die sie haben und die sie offensichtlich noch viel besser verbreiten müssen als bisher. Nach der Seite hin ist Erinnerungskultur ein Quatsch. Das ist nicht besser als wenn die Bundesrepublik Deutschland an ihren Feiertagen an die Wiedervereinigung oder in Leipzig das Völkerdenkmal an die Schlacht von Jena und Auerstädt erinnert. Das ist immer das Argument, weil es schon lange her ist und weil man sich jetzt der Sache noch erinnert, ist es eine große und richtige Angelegenheit, in dem Fall, dass Deutschland sich gegen seine Feinde behauptet hat. Der Gedanke wird nie besser, egal wer ihn vertritt.

 

Frage: Vielleicht können wir zum Abschluss nochmal den Bogen zum Anfang spannen. Da hast du gesagt, irgendetwas lässt sich ja doch aus der Oktoberrevolution lernen. Was genau wäre das denn?

 

PD: Man kann ja sagen, wenn man sich den Begriff einer Sache macht, ist das erstmal sowieso nie verkehrt. Man kann sich auch über die alten Ägypter und ihr Herrschaftssystem oder über das Mittelalter einen Begriff machen. Das ist ja keine Erinnerungskultur das heißt ja nicht, ich lass die Sache hochleben mit dem Argument, sie ist schon alt. Sondern das heißt, sich etwas erklären. Da gibt es den Unterschied noch, wenn ich mir die alten Ägypter oder das ökonomische und politische System des Mittelalters erkläre, dann produziere ich einen schönen Fall von nutzlosem Wissen. Ja, es ist schön, das zu wissen, es ist aber für nichts gut. Und ganz so ist es im Fall der Oktoberrevolution doch nicht. Denn eines stimmt zwar: Die Staaten sind von Erdboden verschwunden, es gibt das System nicht mehr, aber die unzureichende, verkehrte Kapitalismuskritik, der es sich verdankt, die gibt es sehr wohl noch. Den Kapitalismus als Ungerechtigkeit gegenüber den Lohnarbeitern anzuklagen, ist das, was unsere linken Parteien machen. Manchmal möchten sie sich noch revolutionär verstehen, manchmal haben sie das auch gestrichen und machen das mehr wie die Sozialdemokratie es macht: Der Kapitalismus wäre ergänzungs- und korrekturbedürftig, aber im Großen und Ganzen wäre er schon ein prima System der Reichtumserzeugung. Den Gedanken einer Korrektur des Systems im Namen der Gerechtigkeit für den Arbeiter ist ein ganz anderer Gedanke als die Abschaffung der Sachzwänge des Kapitalismus und seiner Rechnungsweise, in der der Arbeiter nicht erst bei der Verteilung, sondern wegen dem Zweck der Produktion und der Stellung, die er zu dem hat, notwendigerweise immer ein Wesen bleibt, das beim größten Reichtum relativ arm ist, und dessen Lebenszweck sich eigentlich in Arbeit erschöpft. Subjektiv meint das keiner, aber objektiv ist es so. Also insofern meine ich, ist [es vernünftig], sich die Oktoberrevolution klar zu machen, sich einen Fehler klar zu machen, dessen staatliches Produkt zwar nicht mehr existiert, aber der Fehler existiert nach wie vor.

4 Responses »

  1. Verstehe, wer will:
    Das Problem im damaligen sog. Realsozialismus war doch nicht, daß den ArbeiterInnen die hergestellten Produkte vom Staat erstmal abgenommen wurden, um den geschaffenen Reichtum anschließend (nach Peter Deckers Ansicht sogar „total wohlmeinend“) wieder zu verteilen..

    Auch im Kommunismus wäre das nicht anders.
    Oder was machen z.B. die Produzenten in einer Schraubenfabrik mit den Millionen hergestellten Schrauben?
    (Selbst verbrauchen doch wohl nicht.)
    Zudem müßten auch ältere Menschen, Kranke, Arbeitsunfähige sowie alle, die nicht direkt in der Produktion arbeiten (z.B. PlanerInnen usw.) versorgt werden.
    Über den vollen Arbeitsertrag könnten die Produzenten auch im Kommunismus nicht unmittelbar verfügen.

    Die Unzufriedenheit im damaligen „Realsozialismus“ hatte doch vielmehr ihren Grund darin, daß es an vielen Stellen mangelte.
    Was wiederum die Folge von deren merkwürdiger Wirtschaftsweise war, die weder eine Marktwirtschaft noch eine vernünftige Planwirtschaft, sondern etwas seltsames Drittes war.
    (Was selbst deren MacherInnen bis zuletzt ein Rätsel geblieben ist.)

    Nicht weiter erklärt blieb auch, daß aufgrund der „realsozialistischen“ Geldrechnungen – ähnlich wie im kapitalistischen Original – der gesellschaftliche Reichtum in der menschlichen Arbeit anstatt an deren Produktivität gemessen wurde, d.h. je mehr gearbeitet wurde, desto mehr Geldreichtum kam zustande.
    (Was bereits Marx als absurd kritisierte.)

    Obwohl einiges gestimmt hat, war das eine schwache, zumindest aber mißverständliche Kritik.

    Grüße
    Michael Hübner

  2. Kurzum:
    Das Problem im damaligen „Realsozialismus“ war die Geldwirtschaft (die in einer – wie Peter Decker richtig erwähnte – bewußten Anwendung des Wertgesetzes gipfelte – was das genaue Gegenteil der Marxschen Kritik am Kapitalismus war), die eine vernünftige Bedarfsplanung verhinderte.
    Und nicht, daß den Produzenten erst etwas weggenommen wurde, um es anschließend wieder zu verteilen.

    Grüße
    Michael Hübner

  3. Vielleicht noch folgendes:
    Die gesamte Kritik am damaligen „Realsozialismus“ ließe sich darin zusammenfassen, daß diese mehrheitlich den Kapitalismus nicht abschaffen, sondern verbessern wollten.
    (Bekanntlich gab es bei denen – mit Ausnahme der Börsen – all das auch, was es im kapitalistischen Original gibt wie z.B. Kapital und Geld, Gewinn- und Verlustrechnung, Lohnarbeit usw., wenn auch zwangsläufig in etwas modifizierter Form.)
    Was sich auch daran zeigt, daß die „Arbeiterklasse“ nicht abgeschafft, sondern sogar noch verherrlicht wurde und zu neuen Ehren kam – bis hin zu den „Helden der Arbeit“.
    Gründlicher hätten diese die Marxsche Kritik in seinem Lebenswerk „Das Kapital“ gar nicht mißverstehen können.
    (Übrigens nicht anders als die heutige noch verbliebene „traditionelle Linke“ wie z.B. DKP usw., auch wenn diese inzwischen ein Auslaufmodell ist und sich zunehmend auflöst bzw. ausstirbt, während deren Lern- bzw. Kritikfähigkeit gleich Null zu sein scheint.)

    Grüße
    Michael Hübner

  4. Noch eine provokante These:
    Insgesamt hatte der damalige „Realsozialismus“ – wenn auch ungewollt – mehr Ähnlichkeiten mit dem Faschismus als mit einem Sozialismus bzw. gar Kommunismus, z.B. die angeblich „unverbrüchliche Einheit von Staat und Volk“, die sog. Volksgemeinschaft usw.
    Deshalb ist es auch kein Wunder, daß heutzutage in Zeiten einer (finalen) Finanz- und Weltwirtschaftskrise die „Rechten“ bzw. Neo-Nazis vor allem in den ehem. „realsozialistischen“ Staaten ihre „Hochburgen“ haben.

    Grüße
    Michael Hübner