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[10/2009] Kritik der VWL: Die soziale Marktwirtschaft und die ‚gesellschaftlich erwünschte‘ Armut

Von • Okt 20th, 2009 • Kategorie: Artikel

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Seit der internationale Finanzmarkt sich selbst zerlegt hat und sich infolgedessen die sonstigen Märkte in einer Weltwirtschaftskrise befinden, hat das Dogma vom freien Markt, der alles dann am besten regelt, wenn nicht in ihn „eingegriffen“ wird, etwas an Popularität eingebüßt – praktisch und theoretisch. Während sich staatliche Rettungspakete, Schutzschirme und Konjunkturprogramme darum bemühen, marktwirtschaftlicher Geschäftstätigkeit zum Erfolg zu verhelfen, während Kurzarbeitsregelungen Massenentlassungen verzögern und Sicherungsklauseln in der Rentenformel die Altersarmut regeln sollen, während die Politik also kräftig am „Eingreifen“ ist, zerbrechen sich die ökonomischen Sachverständigen öffentlich den Kopf darüber, ob sie das – marktwirtschaftstheoretisch betrachtet – soll, muss oder darf.

Darf sie, so teilt uns ein Beitrag im Feuilleton der FAZ mit, und soll sie sogar, damit „der Markt wirklich sozial wird“ (alle Zitate aus: FAZ, 11.April 2009, S. 31).

Was der Markt (nicht) leistet

Dabei beruft er sich auf den „Erfinder“ der „Sozialen Marktwirtschaft“. Der hieß Alfred Müller-Armack und verfasste 1946 ein Werk mit dem Titel „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“, in dem er die Marktwirtschaft als das jeder wirtschaftlichen Planung unbedingt vorzuziehende Wirtschaftssystem propagierte – wegen ihrer hohen ökonomischen „Leistungsfähigkeit“ und der Freiheit des Individuums. Der Markt sorge, so referiert die FAZ, „besser als jedes andere System“ für Produktivität und Reichtum, führe allerdings „mitunter“ zu „gesellschaftlich unerwünschten Einkommens- und Vermögensverteilungen“. Dass der produzierte Reichtum gar nicht mitunter, sondern mit schöner Regelmäßigkeit dort landet, wo sich im Ausgangspunkt schon Geld bzw. Kapital befindet, ist in einer Gesellschaft, die marktwirtschaftlich wirtschaftet, selbstredend nicht „unerwünscht“. Kapitalvermehrung ist schließlich der Zweck der ganzen Veranstaltung. Dass die Mehrheit der Bevölkerung allerdings ebenso regelmäßig in aller Freiheit der Marktgesetze von einem Einkommen leben muss, das für das Lebensnotwendige nicht reicht, und dass sie deshalb ihre Funktion als Arbeitnehmer und Staatsbürger nur eingeschränkt oder gar nicht erfüllen kann, das stört die Macher dieser Gesellschaft schon – mitunter jedenfalls. Müller-Armack weiß, was da zu tun bzw. zu unterlassen ist.

In gar keinem Fall darf der „Marktmechanismus“ beeinträchtigt werden. Das wäre dann der Fall, wenn die Politik Preise anordnete, zu denen die armen Menschen sich das Zeug, das sie brauchen, auch leisten könnten, oder wenn sie ihnen ein ausreichendes Einkommen garantierte. Preis-, Miet- und Lohnbindungen lehnt der „geistige Vater“ der Sozialen Marktwirtschaft entschieden ab. Derartige Maßnahmen wären nämlich ganz schlecht für die Effektivität des Marktes, auf dem das „freie Spiel von Angebot und Nachfrage“ zu Preisen führt, die „die zentrale Rolle bei der Anzeige von Knappheitsverhältnissen“ spielen.

Das behauptet jedenfalls Müller-Armack (und mit ihm die VWL bis heute): Ein hoher Preis hat seinen Grund darin, dass ein Gut „knapp“ ist. Deshalb kriegen es nur ein paar Wohlhabende, die diesen Preis bezahlen können. Ein hoher Preis führt aber auch zu einem steigenden Angebot an diesem Gut, das dann nicht mehr knapp ist, weshalb sein Preis runter geht und weniger Wohlhabende es sich auch leisten können. So will es in der wirtschaftswissenschaftlichen Modellwelt das „Gesetz von Angebot und Nachfrage“ – und so ist es auf dem realen Markt keineswegs.

Momentan sind beispielsweise Autos alles andere als knapp. Massenweise können produzierte Neuwagen nicht abgesetzt werden, weil sie für viele Leute, die durchaus ein neues Auto brauchen könnten, zu teuer sind. Trotzdem sinken die hohen Preise nicht, jedenfalls nicht so weit, dass sie zur Zahlungsfähigkeit dieser Nachfrager passen würden. Um die Befriedigung von Nachfrage geht es nämlich immer nur als Mittel der Gewinnerzielung, und so sind auch die Marktpreise kalkuliert: Mit dem Verkauf soll ein Überschuss über die Produktionskosten erzielt werden. Wenn diese Preiskalkulation nicht aufgeht, die Waren zu diesem Preis nicht verkauft werden können, unterbleibt ihr Verkauf. Damit stellt sich ihre Produktion, die ja sachlich ein Erfolg war – schließlich hat sie eine Menge gebrauchsfähiger Güter erzeugt – als marktwirtschaftlicher Fehlschlag heraus. Für den Konsum stehen diese Güter deshalb nicht zur Verfügung. Ressourcen und Arbeit, die für ihre Herstellung nötig waren, waren vergeblich aufgewendet; nicht, weil niemand diese Güter konsumieren wollte, sondern weil die Preiskalkulation ihrer Hersteller nicht aufging. Was nicht gewinnbringend verkauft werden kann, ist in der Marktwirtschaft schlicht wert- und nutzlos. Von Knappheit an Gütern, die der Preis „anzeigen“ müsste, also keine Spur! „Knapp“ ist nur das Geld der Armen, die der Preis der Waren am Konsum hindert. Überproduktion von Waren, die auf dem Markt nicht abzusetzen sind, neben einer Vielzahl von Armen, denen es an diesen Produkten fehlt: Das ist die „hohe Leistungsfähigkeit“, für die die Liebhaber der Marktwirtschaft dieses System so gerne loben.

Die behaupten nun, dass dieses Missverhältnis ein zwar unschönes, aber notwendiges Zwischenergebnis im „Spiel von Angebot und Nachfrage“ sei, das aber „der Markt“ selbst korrigiere. Findige Anbieter würden ihre Kalkulation nämlich der Geldknappheit bei den Nachfragern anpassen und Billigprodukte auf den Markt werfen, die diese sich leisten können – und schon sind Angebot und Nachfrage wieder auf bestem Weg zum Gleichgewicht. Bloß: Welche Anbieter nun „findig“ genug waren, stellt sich wiederum hinterher, nämlich in bekannt „effizienter“ Weise nach der Produktion auf dem Markt heraus. Der ist, wie immer, so auch in diesem Fall, bevölkert von Geschäftsleuten, die alle bestrebt sind, ihre Produktionskosten so weit zu senken (die Kosten wohlgemerkt, nicht etwa, wie die VWL gerne glauben machen möchte, den Ressourcenverbrauch), dass sie die Konkurrenten preislich unterbieten und aus dem Markt drängen können. Anbieter, die da unterliegen, können einpacken. Ihre Produkte bleiben liegen, ihre Produktionsanlagen sind als unrentabel auszumustern und Leute, die da gearbeitet haben, verlieren deshalb ihre Existenzgrundlage.

Sachlich zeichnet sich die Marktwirtschaft also durch eine grandiose Verschwendung von materiellem Reichtum bei gleichzeitiger massenhafter Verarmung aus. Beides ist effizient f�r die Erwirtschaftung von Profit, aber eben auch nur dafür.

Wie seine Leistungen zu „korrigieren“ sind

Auf diese „ökonomischen Leistungen“ der Marktwirtschaft will Müller-Armack nichts kommen lassen. Die „Automatik des Marktes“ sei, so beteuert er, ein „überaus zweckmäßiges Organisationsmittel„. Das Resultat allerdings, das sie hervorbringt, hält er für korrekturbedürftig: „Es war ein folgenschwerer Fehler des wirtschaftlichen Liberalismus, die marktwirtschaftliche Verteilung schon schlechthin als sozial und politisch befriedigend anzusehen„.

Eigentlich liegt ja nun der Gedanke nahe, dass an den Zwecken der Markwirtschaft etwas faul sein muss, wenn sie, zweckmäßig betrieben, zu solch unbefriedigenden Ergebnissen führt. Die „marktwirtschaftliche Verteilung“ führt ja gar nicht ausnahmsweise, sondern beständig zu Reichtum auf der einen und Ausschluss von vorhandenem Reichtum auf der anderen Seite. Denn Anbieter und Nachfrager betreten als Privateigentümer den Markt schon mit der Voraussetzung, dass die einen Kapital und damit Produktionsmittel besitzen und die anderen eben nicht. Diese müssen, weil sie damit von deren Nutzung ausgeschlossen sind, den Besitzenden ihre Arbeitskraft anbieten. Die wird von denen nur nachgefragt, wenn sie so billig ist, dass ihre Käufer mit ihrer Anwendung Profit erzielen.

In der Markttheorie von Angebot und Nachfrage kommt das alles so nicht vor. Da agieren „Leistungsbringer“ mit unterschiedlichen „Qualitäten“ – der eine hat kräftige Oberarme, ein anderer kann gut rechnen und ein Dritter hat eben viel Geld. Das führt, so die Theorie weiter, zu einer „Einkommensverteilung„, die Alt- und/oder Neoliberale als schwer in Ordnung, weil irgendwie leistungsgerecht, propagieren. Andere Markttheoretiker sehen das mit der unterschiedlichen Leistung im Prinzip genauso, stehen aber dem Ausmaß der so erzeugten Armut kritisch gegenüber. Zu denen gehört Müller-Armack. Er erteilt der Politik den Auftrag, für die „notwendige Rücksichtnahme auf sozialethische Prinzipien“ zu sorgen und die „marktwirtschaftliche Einkommensverteilung“ zu korrigieren, dabei aber auf keinen Fall in den „Marktmechanismus“ einzugreifen, der diese Verteilung hervorbringt. Das geht so: „Wenn auf dem Weg der Besteuerung die höheren Einkommen gekürzt und die einlaufenden Beträge etwa in Form von direkten Kinderbeihilfen, Mietzuschüssen, Wohnungsbauzuschüssen weitergeleitet werden, liegt geradezu der Idealfall eines marktwirtschaftlichen Eingriffs vor.“

Sehr ideal: Wenn die Marktwirtschaft dafür sorgt, dass viele Marktteilnehmer von einem Einkommen leben müssen, das nicht mal fürs Wohnen und das Großziehen von Kindern ausreicht, dann ist ihr das einerseits nicht vorzuwerfen. Es entspricht aber andererseits, wenn’s allzu dolle kommt, nicht den „Notwendigkeiten des staatlichen und kulturellen Lebens„, die Müller-Armack verwirklicht sehen möchte. Zu denen gehört es, dass auch Niedriglohnempfänger irgendwie ausgeschlafen und gewaschen am Arbeitsplatz erscheinen und den „gesellschaftlich erwünschten“ Nachwuchs produzieren können. Sozialethisch betrachtet darf ihre Armut nur so groß sein, dass sie ihnen die Erfüllung dieser sozialen Aufgaben nicht verunmöglicht. So viel „Wohlstand für alle“ muss sein und deshalb muss der Staat eine nachträgliche „Vermögensumverteilung “ vornehmen, indem er die Reichen besteuert und die Armen bezuschusst. Dieser Fall von „marktwirtschaftlichem Eingriff“ ist für Müller-Armack deshalb „ideal“, weil er zu seinem Marktmodell passt: Wenn sich die so Bezuschussten auf den Markt begeben und nachfragen, dann wird die freie Preisfindung nicht beeinträchtigt. Die „Regeln“, die die Markttheorie aufgestellt hat, sind nämlich nicht verletzt, wenn die Politik den Reichen etwas Geld wegnähme, um es den Armen zu geben. Wer da als Nachfrager auftritt und was der dann nachfragt, ist schließlich völlig egal für das „freie Spiel“ von Nachfrage und Angebot, für das die Wirtschaftswissenschaft die ideale Grundregel aufgestellt hat, dass beide sich immer einander anpassen und damit alles ins Lot bzw. Gleichgewicht kommt. Insofern gibt es also keinerlei „Marktproblem“ bei der Vermögensumverteilung.

In der realen Sozialen Marktwirtschaft geht es aber gar nicht um die Anzeige von Knappheit, den Einklang von Angebot und Nachfrage und ähnliche Erfindungen. Da geht es um Kapitalwachstum, also um Geld, das einzig und allein deshalb in die Produktion investiert wird, um es zu vermehren. Und dafür ist es von entscheidender Bedeutung, dass ein Großteil der Bevölkerung über kein Vermögen und kein Einkommen verfügt und deshalb kostengünstig als Produktionsfaktor zu haben ist. Dass diese Leute „Anbieter“ besonderer Art sind, wird durchaus deutlich, wenn Müller-Armack den Mindestlohn thematisiert: „Es ist marktwirtschaftlich durchaus unproblematisch, als sogenannte Ordnungstaxe eine staatliche Mindesthöhe zu normieren, die sich im Wesentlichen in der Höhe des Gleichgewichtslohns hält, um willkürliche Einzellohnsenkungen zu vermeiden.

Wieso ist eine staatlich festgelegte Lohnuntergrenze „marktwirtschaftlich durchaus unproblematisch„, wenn Preisbindungen generell ein Vergehen gegen die marktwirtschaftliche Effizienz darstellen? Aus der Markttheorie ergibt sich das zwar nicht, aber für den Markttheoretiker eben dann doch: Auf dem Arbeitsmarkt werden Preise erzielt bzw. gezahlt, deren geringe Höhe mit den „sozialethischen Prinzipien“ eines Wirtschaftsfachmannes schon einmal schwer vereinbar sein kann. Warum es solche Löhne gibt, interessiert ihn allerdings nicht: Gegenüber stehen sich da nämlich die Anbieter von Arbeitskraft, die wegen ihrer Besitzlosigkeit auf jeden Lohn angewiesen sind, und die Nachfrager nach Arbeit, die dafür nur so viel zahlen, dass ihre Gewinnkalkulation aufgeht. Es handelt sich da in aller Freiheit um ein materielles Erpressungsverhältnis, in dem die eine Seite ihr Angebot nur um den Preis des Existenzverlustes zurückziehen kann, weswegen die andere bei der Erzielung eines günstigen Kostpreises leichtes Spiel hat. Weil es auf den Geschäftserfolg dieser Seite ankommt, muss die Politik, so der Volkswirtschaftler, bei ihren sozialethischen Maßnahmen schwer aufpassen. Am besten geht das, wenn sie die Unternehmen auf die Sozial- und Lohnkosten festlegt, die das durchschnittlich gewinnträchtige Unternehmen sowieso bezahlt. Dieses Armutsniveau ist in jedem Fall „marktkonform„.

Aus: gegeninformation NRW-Ausgabe – Nummer 02/09

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