Mal im Ernst: So ganz im Ernst glaubt doch heutzutage
kein Mensch mehr an die Geschichte vom Gotteslamm, das sein
liebender Vater für die Sünden der Menschheit hat umbringen lassen.
Schon gar nicht an die seltsame Legende, seine Mutter wäre Jungfrau
geblieben und mit diesem Leib jetzt „im Himmel“. Und als Schaf
möchte sich kein guter Katholik vorkommen, auch wenn der Papst auf
„Pastoralreise“ ist; und das kommt nun einmal vom lateinischen Wort
für „Hirte“, welcher kaum ohne Herde zu denken ist, die begriffslos
über die Weide stolpert.
Na gut: Es mag Leute geben, die haben Gott erlebt
oder die mystische Kraft des Heiligen Vaters gespürt oder sind von
der Allerseligsten getröstet worden. Es gibt ja auch Leute, die sind
in Kanzler Schröder verliebt, werden beim Anblick von Britney Spears
ohnmächtig, machen senkrechte Skiabfahrten zu ihrem Lebenszweck oder
halten sich für den Kaiser von China. Wo der Wahnsinn zum Erlebnis
geworden ist – egal ob mit oder ohne Opium –, da hat der Verstand
sein Recht verloren.
Aber ein normaler Mensch muß seinen Verstand doch
immer wieder ziemlich anstrengen, um den Kuttenmännern aus den
Pfarrhäusern und dem aus Rom und ihrer Botschaft von einem
entsetzlichen kleinlichen lieben Gott und seiner unter tausend
Vorbehalten gewährten Gnade etwas abzuge¬winnen. Am Ende kommen dann
zwar doch einige Zehntausende zusammen, wenn der Himmelspförtner aus
dem Vatikan irgendwo öffentlich zwei Nazi-Opfer selig spricht:
genauso wie Hunderttausende vorbeischauen, wenn der evangelische
Konkurrenzverein seine Kirchentage ausrichtet und ein öffentliches
Singen und Beten veranstaltet. Was sie allerdings zusammenströmen,
gaffen und frohlocken läßt, ist ein Bedürfnis, dessen Pflege nicht
bloß dem Verstand schadet.
Es geht um die Nachfrage nach dem „Sinn“
überhaupt. Diese Nachfrage stellt sich an beliebigen Stellen ein,
und das nachgefragte Gut soll überall und gleich gut passen – schon
das ist höchst verdächtig.
Der Frieden ist eine wacklige Sache, dauernd
werden irgendwo Leute im Staatsauftrag umgebracht; wonach suchen wir
da? Ein Mensch, dem es gut geht, langweilt sich; was geht ihm ab?
Die meisten Zeitgenossen strengen sich ihr Leben lang tüchtig an,
gönnen sich wenig bis nichts und sind am Ende ziemlich ausgelaugt;
was fehlt ihnen in Wirklichkeit? Ansehnliche Teile der Menschheit
wohnen auf Müllbergen und leben von Abfällen; wonach stochern sie
dort letztlich – oder jedenfalls wir mit ihnen, wenn das Fernsehen
mal bunte Bilder aus den Slums der „3. Welt“ zeigt? Eine junge
Mutter stirbt bei einem Autounfall; was vermissen die Waisen – oder
jedenfalls das Publikum, das durch „Bild“ vom dem „Schicksalsschlag“
erfährt? Und wonach fragt sich überhaupt ein jeder, vor allem in den
„dunklen Stunden seines Lebens“? Die Antwort ist überall dieselbe:
Ein Sinn muß her. Ein seltsames Bedürfnis! Für alles, was passiert,
wünscht sich der wirklich oder in Gedanken betroffene Mensch ein
Weiß-warum und Wozu, dem er beipflichten kann. Eine solche
beruhigende und allgemeingültige Auskunft soll ausgerechnet und ganz
besonders dort fällig sein, wo gerade Bedürfnisse, die einer
wirklich hat, und ganz schlichte Zwecke, die man sich setzt, brutal
durchkreuzt werden. Wenn alles schiefgeht, wenn die Bilanz eines
halben oder ganzen Lebens ergibt, daß es sich nicht gelohnt hat –
außer für andere, die es besser getroffen haben –; dann soll man
ausgerechnet in der Vorstellung Trost suchen, gerade im Scheitern
läge zumindest eine tiefere Weisheit begraben, die man jetzt
begriffen hat und die für jeden ausgebliebenen Erfolg entschädigt.
Derselbe Gedanke ist gleich auch noch gut für die Beschwichtigung
aller Neidgefühle gut: „Geld allein macht nicht glücklich!“
behaupten Leute, die genau wissen, daß sie mit einem Tausender mehr
pro Monat ihre gröbsten Sorgen schon mal los wären.
Ein Sinn ist da tatsächlich billiger zu haben.
Er besteht ja bloß in der leeren Versicherung, man bräuchte sich auf
das, was wirklich los ist, nur einen Reim zu machen.
Und zwar einen, der sich durch seine Entdeckung
menschlich-allzumenschlicher Übel an jedem Geschehnis bewährt. Diese
Versicherung taugt für die brutalste Sorte Trost: Es kann so wüst
zugehen, wie es will – wer nach „dem Sinn“ fragt, will ganz einfach
daran glauben, irgendwie ginge schon jedes verpfuschte Leben, jede
Enttäuschung in Ordnung. Umgekehrt läßt sich mit der Sinnfrage jedes
Vorhaben madig machen: Was immer sich jemand zu seinem Vorteil
vornimmt, es ist ein „bloß“ und taugt nichts, solange er keinen
eingebildeten Auftrag, also eine Haltung der Selbstlosigkeit und
Dienstbarkeit, der Verantwortung dazu vorweisen kann.
Die ‚Vorteile’ einer solchen Haltung, die man sich
selbst als Christenmensch zulegt und anderen abverlangt, liegen auf
der Hand. Erstens reihen sie alles, woran auch Ungläubige nur
Nachteile und Bedrohliches entdecken, in die große Klasse
menschlicher Verfehlungen ein. Mit diesem genial erfundenen
Verursacherprinzip warnen sie vor Atomraketen und Gentechnologie;
wenden sich entsetzt von jeder Gewaltanwendung ab, die ihnen
auffällt; behaupten allen Ernstes, dem „Menschen“ stünde es nicht
zu, anmaßend in die Natur einzugreifen oder das Geschlechtliche ohne
den verpflichtenden Segen zu genießen. Mit dieser Sorte Anklage
macht sich jeder Christ zum Generalstaatsanwalt, der über einen
einzigen Schuldigen herzieht – den Menschen, der sein geringes
Gewicht und sein minderes Recht vor Gott dem Allmächtigen vergißt.
Unterschiedslos entdeckt er im 21. Jahrhundert nach Christus an
Gemeinheiten und Drangsalen der unterschiedlichsten Art, an jeder
Menge Not und Gewalt immerzu denselben Grund.
Ein Christ hat es nicht nötig, einmal wirklich
einen Verursacher auszumachen und ihn höchstoffiziell von seinen
Opfern zu unterscheiden – da könnte ja glatt statt des Bedauerns der
Opfer Kritik herauskommen.
Nein, dem Aufruf, auch einmal ein Opfer zu
vermeiden, indem man den wirklichen Herren dieser Welt das Handwerk
legt, können Christen nichts abgewinnen. So etwas steht nämlich den
armen Sündern auch nicht zu; und die Warnung vor Gewalt, die der
Papst auf seinen Reisen unentwegt ausstößt, gilt allemal den paar
Versuchen von Leuten, die sich einmal etwas nicht gefallen lassen.
Zweitens führt der Universalgesichtspunkt des
Glaubens, der die Sündernatur, den bösen Charakter von uns allen
noch in allem aufspürt – wobei es kein Wunder ist, daß für den Papst
ein flottes Besäufnis mit vorehelichem Verkehr danach genauso
bedeutsam ist wie die Dislozierung einer staatlichen
Tötungsmaschinerie –, auch über die Beschuldigung hinaus.
Entschuldigt sind einerseits all die, welche tatsächlich nach den
irdischen Gesetzen von Geld und Gewalt zuständig sind. Von ihnen
verlangt die Christenheit gar nicht viel: Sie sollen ihrer
Verantwortung eingedenk sein, sich bewußt werden, daß auch ihr Tun
eitel Menschenwerk ist und nicht fehlerlos, und im übrigen ihre
„Verantwortung“ – dies das christliche Wort für Macht – so ausüben,
daß ein Gewissen dabei ist.
Wer das Sagen hat im Staat und im Kommerz, wird
von den Moralbolzen des ‚Sinnes’ auf Erden doch glatt in die Pflicht
genommen, sich zu seinen anderen durchaus nicht zuträglichen Taten
einen guten Sinn & Zweck dazuzudenken und nach diesem guten Gewissen
weiter¬zumachen.
Entschuldbar ist freilich auch alles, was die
übrigen Menschenkinder so treiben. Allerdings auch nur, wenn sie
sich ihrer eigenen Unzulänglichkeit bewußt sind. Das dürfen sie sich
nicht anmaßen: ihre Herren tatkräftig zum Abdanken bringen – bloß
wegen dem, was die ihnen so einbrocken. Was ein Volk von seiner
Obrigkeit verlangen darf, ist nach christlichem Recht etwas ganz
anderes: das „Umdenken“, diese billige Gewissensposse. Die
Selbst¬gerechtigkeit des christlichen Sinnprogramms erlebt immer
dann ihre schönsten Feierstunden, wenn viele garantiert selbst
unschuldige Opfer zu beklagen sind. Dann sind die Menschen ganz
selbstbewußt das, was ihnen ansteht: Betroffene; und in dieser
Untertanenpose dürfen sie unter päpstlicher Anleitung auch auf der
Verantwortung ihrer Herrschaften bestehen. Im Gebet, versteht sich,
im gemeinsamen.
Auf das Gebet und die übrigen Techniken der
Christen¬gemeinde, sich dem „Sinnverlust“ der Welt
entgegenzu¬stellen, meinen manche moderne Bürger verzichten zu
können. Auf das Programm einer Weltanschauung, die nichts ohne
verpflichtende Werte geschehen lassen will und noch den banalsten
Berechnungen um Geld und Macht solche Ehrentitel ablauscht, freilich
nicht. Die Kirche hat heute viele Konkurrenzgemeinden zur Seite,
deren „Ersatzreligion“ sie schätzt und nicht gleich unter „Sekten“
einordnet. Was für einen höheren Dienstherrn sich einer einbildet;
ob er seine sinnstiftenden Aufträge von einem „höheren Wert“ wie
„der Familie“, „der Zukunft“ oder „der Nation“, „der Natur“ oder von
einem höheren Wesen wie der „Jungfrau Maria“ oder dem „Herrn Jesus“
empfangen haben will; im Schoße welcher Übermacht einer Trost findet
oder seine Anklagen loswird: Das ist im Grunde ja auc herzlich
gleichgültig. Es geht allemal nur darum, sich irgendeine Autorität –
und zwar eine, die man sich als unwidersprechlich vorstellt – zum
eigenen Tun, Lassen und Leiden hinzuzudenken. Und für einen modernen
Menschen geht der normale Weg zur „Sinnfindung“ sowieso nicht
darüber, daß ihn die Ehrfurcht vor irgendwelchen weihevollen Größen
packt, sondern darüber, daß er irgend¬einen Sinn für angebracht
hält. Der Wunsch nach einem Tröster und Vorschriftenmacher schafft
sich allemal die passende Einbildung, wenn man ihn einmal hegt; und
da ist ja wirklich eine so gut wie die andere. Denn alle haben
dieselbe Funktion, die gerade Christen gerne als den unverzichtbaren
Dienst ihres Glaubens, als seine jegliche Vernunft überschreitende
und überflüssig machende Brauchbarkeit loben.
Dieser Sinn des Glaubens an einen Sinn ist
fatal. Er besteht nämlich erstens darin, den sinnsuchenden Menschen
von jeder richtigen Betätigung seines Ver¬standes abzubringen.
Gerade wenn man mit einem Vorhaben scheitert, ist
doch eine Analyse der wirklichen Gründe das einzig Ange¬brachte. Der
eine stirbt durch Bazillen, der andere an Hunger; das eine liegt am
Erreger, an mangelnder Hygiene und /oder an der sowieso
beanspruchten Gesundheit, das andere an gewissen
weltwirtschaftlichen Errungenschaften. Und wenn in unserem blühenden
Europa die meisten Leute regelmäßig mit dem schlichtesten Vorhaben
scheitern, nämlich damit, durch Arbeit genug Geld für ein
sorgen¬freies Leben zu verdienen, dann liegt der Grund dafür nicht
in einer tiefsinnigen oder „sinnlosen“ Einrichtung des Weltlaufs,
sondern in seiner kapitalistischen: Vom Lohn, den der, der ihn
zahlt, als Kostenfaktor berechnet und nur für Gewinnzwecke ausgibt,
läßt sich logischerweise nicht anständig leben.
So etwas zu wissen, ist aber unerläßlich,
umrichtig damit umzugehen, und genau das ist das Zweite, was die
Sinnsucherei verhindert. Man muß schon aufhören, über den Sinn einer
Krankheit zu grübeln, um die Bazillen zu entdecken – und es ist
schlimm genug, daß inzwischen auch die Mediziner den Rückweg von der
Wissenschaft zur guru-mäßigen Quacksalberei antreten, weil sie
festgestellt haben, daß ihre Pillen gegen die Folgen mancher Arbeit
oder einer chronischen Vergiftung durch eine Industrie mit
Weltniveau nicht helfen. Wer die marktwirtschaftlichen
Notwendigkeiten von Hungersnöten in „Drittwelt-Staaten“ begreift,
nimmt die Opfer nicht als Chance für eine gute Tat, sondern tut sich
mit anderen zur Beseitigung gewisser, auch weltwirtschaftlich
wirksamer Interessen zusammen. Und wer über den Lohn Bescheid weiß,
der bildet sich nicht mehr ein, durch seine Arbeit reich zu werden,
sondern kümmert sich um ein paar Veränderungen anderer Art.
Das Richtige zu tun, ist zwar noch lange keine
Erfolgsgarantie: Die besten Medikamente können versagen, und im
Konflikt gegensätzlicher Interessen können auch die anderen sich
durchsetzen. Das Richtige zu lassen, ist aber eine Garantie für
lebenslange Niederlagen. Und wer über deren Sinn grübelt, der hat
sie schon hingenommen, noch bevor sie stattgefunden haben.
Die Nachfrage nach einem „Sinn des Lebens“ ist
also allemal die Entscheidung gegen die eigenen materiellen
Interessen und gegen vernünftiges, also materiali¬stisches
Nachdenken über deren Hindernisse.
Das Angebot wird daher von Sinnstiftern wie dem
Papst, die anderen zur bescheidenen Sinnsuche raten, locker
erledigt. Wer so sinniert, will ja schon an ein Prinzip glauben, das
noch über Mord und Totschlag hinwegtröstet, indem es ihn einordnet.
Auf diesem Willen gedeiht jeder weltanschauliche Mist; also auch
jeder religiöse Wahn. Dann heißt der Sinn „Gott“ mit Nachnamen und
umfaßt viele Geschichten, die alle viel zu denken geben – nämlich
immer dasselbe. Die Knechtsgesinnung heißt hier „Glaube“. Den teilt
ein moderner Christ ohne Ergriffenheit; eher in der blödsinnigen
Berechnung, daß man schließlich ohne Sinn um vieles ärmer wäre –
fehlen täten ein paar falsche Gedanken und das Gefühl, in einer
schwer mißratenen Welt zu Hause zu sein und mitschuldig dazu.
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