contradictio.de  -  Gedanken (nicht nur) zur Zeit - eMail


        Startseite
        Datenschutz

        Aktuelles (Blog)

        Statistiken

        Klimawandel

     Krieg & Frieden

        11.09.01
        Antiterrorkrieg
        Friedensbewegung
        Irak-Krieg
        USA - Sicherheitsstrategie

     Deutschland

        agenda 2010
        BRD-Stärke
        Bundeswehr
        BSE
        Du bist Deutschland
        Hartz-Module
        Medien
        (Neo-)Faschismus
        Rente 1
        Rente 2

     Psychologie & Glaube

        Aggression
        Gefühl & Verstand
        Kritik der Psychologie
        Manipulation
        Motivation
        Psychologisches Denken
        Sinn des Lebens
        Vorurteile

     Bürgerl. Denken

        Aussenhandel
        Beispiel
        Denken
        Dummheit
        Geschichte
        Hegel
        Hypothese
        Linguistik
        Marktwirtschaft
        Moral
        Nationale Identität
        Pflichten
        Profit
        Skeptizismus
        Sprachphilosophie
        Vergleich
        Volkswirtschaftslehre
        Wahrheit
        Wissenschaft der Logik
        Wissens. + Teleologie
     

 


Download als   PDF-Dokument (27 kB): hypothese.pdf
 

Einige bescheidene Vermutungen über...

Die Hypothese

 

 


In den Institutionen, in denen es angeblich um Wissen, Bildung und Forschung geht, passiert einem öfter folgendes: Du kommst hinein und du hast eine schöne Theorie. Welcher Bescheid wird dir erteilt? "Nichts da, das war bloß eine Hypothese!" Gut! Der Mensch ist lernfähig. Das nächste Mal geht er hinein und verkündet jedem, der es wissen will, er habe eine Hypothese (gr.) In Wirklichkeit hat er natürlich immer noch seine Theorie. Soll man daraus folgern, dass Hypothesen etwas mit Wissenschaft zu tun haben?

Was haben Hypothesen mit Wissenschaft zu tun?

Ein Mensch, der sagt, er hätte eine Hypothese, der behauptet, etwas zu wissen. Auf Grund dessen, was er bereits über seinen Gegenstand weiß, kommt er zu dem Ergebnis, dass dieser so oder so beschaffen sein könnte. Wenn man sagt, ich habe eine mögliche Erklärung, so ist zweierlei behauptet: 1. die angestellte Vermutung hat Gründe, und zwar in dem, was man schon weiß, und 2. diese Gründe sind mangelhaft, insofern sie noch verschiedene Erklärungen zulassen. Will man also Gewissheit haben, kann man sich mit einer Hypothese nicht zufrieden geben. Die moderne Wissenschaft sieht das anders. Sie geht vom absoluten Gegensatz des Denkens zur Objektivität als Selbstverständlichkeit aus, indem sie allem Wissen seine prinzipielle Vorläufigkeit attestiert. Den darin enthaltenen Widerspruch, den Maßstab der objektiven Erklärung anzuführen, um seine Unerfüllbarkeit zu betonen, nehmen bürgerliche Wissenschaftler als Beleg dafür, dass hypothetisches Denken in Ordnung geht: Wenn man von der Realität nichts Sicheres sagen kann, muss man sie eben näherungsweise deuten. So halten gewusste Nichterklärungen reihenweise Einzug in die Welt der Wissenschaft, die durch die öffentliche und vorweg ausgesprochene scheinbare Einschränkung, sie seien keineswegs das letzte Wort über ihren Gegenstand, nicht nur nichts an Gültigkeit einbüßen, sondern gerade umgekehrt respektabel gemacht werden. Hypothesen wie "Lernen ist Verhaltensänderung" werden zu gewichtigen Befunden, denen 5 gegenläufige mit demselben erkenntnistheoretischen Recht gegenüberstehen, also dadurch, dass sie sich zusammen mit ihrer Selbstbezweiflung präsentieren; vielleicht ist Lernen ja auch etwas ganz anderes, aber wer kann das mit Sicherheit sagen? Weit davon entfernt, unermüdlich Hypothesen aufzustellen, um sie dem Rest der Forschergemeinde zwecks alsbaldiger Widerlegung zur Verfügung zu stellen, damit eine absurde Vorstellung(!) das Wissen zunimmt oder zumindest das Unwissen ab, zeigt sich die bürgerliche Geisteswelt vielmehr als solche, in der man des hypothetischen Arguments berechtigte Ansätze vorgestellt und zugleich unangreifbar gemacht werden. Dass Wissenschaft eine Sammlung von derartigen Dogmen sein muss, hat sich längst bis in das letzte Proseminar herumgesprochen, und Beiträge, die ihren selbstzweiflerischen Charakter nicht herausstreichen, müssen im Namen der Vorläufigkeit allen Wissens entschieden zurückgewiesen werden. Die Wissenschaftstheorie bezieht sich auf dieses Treiben als Normalform wissenschaftlichen Denkens, wenn sie behauptet, "der Fortschritt der Wissenschaften bestehe im Aufstellen von immer neuen Hypothesen", und tritt den philosophischen Beweis dafür an, dass alle Theorie bloß hypothetisch ist.

Alles Wissen ist hypothetisch

Die theoretische Befassung mit der Welt kann sehr unterschiedlich ausfallen: Je nachdem, wie das Subjekt sich auf seine Gegenstände bezieht, muss man seine Gedanken beurteilen. Sie sind Erkenntnis, Spekulation oder Phantasie. Die Wissenschaft entdeckt in den verschiedenen Möglichkeiten, sich mit der Welt zu befassen, nicht unterschiedliche Leistungen des Geistes, sondern ein Problem des Denkens überhaupt. Weil es sich in jedem Fall dabei um Gedanken handelt, soll man es den Gedanken nicht ansehen können, ob sie irgend etwas erklären oder Produkt der Phantasie sind. Sie behauptet, jede Tätigkeit beanspruche, Wissen zu sein, und wirft ihr von dieser Unterstellung aus vor, dass sie auch keines sein könnte. Eine sehr interessierte Behauptung, denn der Wissenschaftstheoretiker weiß ja um den Unterschied zwischen einer Erklärung und einer Erfindung, wenn er sie als verschiedene Tätigkeiten aufzählt und behauptet zugleich, an den Gedanken keinen Unterschied entdecken zu können. Jedes Urteil, das einer über einen Gegenstand fällt, unterliegt damit dem sehr prinzipiellen Zweifel, ob es denn auch zutreffe. Man kann nicht wissen, ob der Gedanke richtig ist, weil als Charakteristikum eines jeden Gedankens behauptet ist, dass er möglicherweise falsch ist. Irrtümer sind nicht mehr Fehler im Denken, bzw. fehlerhafte Gedanken, sondern eine conditio sine qua non des Denkens überhaupt. Auf diese Weise entwirft die Wissenschaftstheorie das Bild einer Wissenschaft, in der ständig herumgetüftelt wird und man niemals – und das weiß der Herr Wissenschafts-theoretiker nun wieder ganz genau – sicher sein kann, irgendeine gültige Erkenntnis zutage gefördert zu haben. "Der Gang der Wissenschaft besteht im Probieren, Irrtum und Weiterprobieren." (Popper) Verlangt wird also vom Subjekt, sich von vornherein zu seinem Denken hypothetisch zu stellen. Es soll jedem Gedanken skeptisch gegenüberstehen, weil es einen möglichen Irrtum nicht ausschließen kann. Und dieser grundsätzliche Mangel am Denken, dass es nie wissen kann, ob es richtig gedacht hat, soll ausgerechnet daran liegen, dass es das Subjekt ist, das denkt. Weil Denken menschlich ist, ist es nicht objektiv, ist der Vorwurf an jedes Urteil über einen Gegenstand. Ein Vorwurf, der ebenso grundlos ist wie die damit begründete Aufforderung zum Zweifel: Warum soll es denn ein Mangel sein, dass das Denken eine Tätigkeit eines Subjekts ist? Wer sollte es ihm denn abnehmen? Das ist schon ein billiger Trick: Weil das Subjekt denkt, ist der Inhalt der Gedanken bloß subjektiv. Mit der "Kritik", dass die Erkenntnis "ein Erzeugnis des Menschen" und damit "alle Theorie das Resultat von Einfällen" sei, trennt die Wissenschaft das Denken von der Objektivität und wirft nach vollbrachter Tat die Frage auf, wie beide wieder zusammenkommen können. Sie suchen nach einem Kriterium, das die unabhängig von der Befassung mit realen Objekten zustande gebrachten Gedanken doch als objektive ausweisen könnte und findet es in der Vorstellung des unbegriffenen Gegenstandes selbst.

Deswegen: "Empirische Kontrolle"

Die Wissenschaftstheorie will die von ihr ausgesprochene Skepsis gegen mögliche Gewissheit dennoch keinesfalls als Aufforderung missverstanden wissen, das Theorietreiben bleiben zu lassen, im Gegenteil: Die Wissenschaft fordert jetzt die Empirie als Kriterium der Theorie, die zwar nicht die Richtigkeit, aber die Berechtigung der Gedanken unter Beweis stellen soll. So ergibt sich der Widerspruch, dass mit der "Realität" gerade das, wovon man vorgab, nichts wissen zu können, als Überprüfungsinstanz eingeführt wird. Wissenschaftsphilosophen behaupten allen Ernstes, der unbegriffene Gegenstand selbst müsse, wenn man ihn mit den ohne seine Berücksichtigung verfertigten Gedanken über ihn vergleiche, für die Stimmigkeit dieser Theorien bürgen: "Es ist unmöglich, durch reines Nachdenken und ohne eine empirische Kontrolle (mittels Beobachtungen) einen Aufschluß über die Beschaffenheit und über die Gesetze der wirklichen Welt zu gewinnen." (Stegmüller) Praktizieren läßt sich diese theoretische Absurdität, das Denken an der ihm völlig inkommensurablen "Realität" messen zu wollen, nicht. Auch dann nicht, wenn man in Rechnung stellt, was hier mit "Theorie" und "Realität" oder "Erfahrung" gemeint ist. Erstere löst der Wissenschaftstheoretiker auf in Sätze, in denen nicht geurteilt, sondern eine beliebige Einzelheit an einer Sache ausgedrückt wird, wie z.B. bei den berühmten weißen Schwänen; Wissenschaft ist hier Nachschauen, ob es sich so verhält. Der Wissenschaftstheoretiker stellt sich das folgendermaßen vor: dass Schwäne weiß sind, hat man nicht irgendwann einmal festgestellt, sondern verdankt sich einem "Einfall" "Theorien sind Einfälle, Entdeckungen, zu denen kein rationaler Weg von den gemachten Beobachtungen führt." (Stegmüller) Man formuliert eine Hypothese "Könnte sein, dass Schwäne weiß sind" und kontrolliert sodann die "Idee" an der Realität, und siehe da, man findet tatsächlich einen weißen Schwan. Die Realität stellt in dieser Vorstellung von Wissenschaft nicht den Ausgangspunkt des Nachdenkens dar, sondern "kontrolliert" die Theorie freilich auf eine recht eigentümliche Weise: die "Empirie", die der Wissenschaftler zum Zwecke der Überprüfung seiner theoretischen Annahmen beobachten will, ist von vornherein gar nichts anderes als die Ansammlung von Instanzen der Theorie. Deswegen wird per "empirischer Kontrolle" auch gar nicht nach der Stimmigkeit des inhaltlichen Urteils über die Realität gefragt, sondern danach geforscht, ob es das, was die Hypothese zu ihrem empirischen Indikator erklärt, in der Realität gibt oder nicht. Die schiere Existenz eines Sachverhalts, mehr ist sie nicht, die "solide empirische Grundlage" einer Überprüfung von Theorien. "Scheitern" kann deswegen keine noch so verrückte Mutmaßung über den Charakter dieser Sachverhalte, einfach, weil dies zur Überprüfung auch gar nicht ansteht. (Und der Schein, hier ginge es ums "Nachprüfen", kommt nur deshalb zustande weil Popper und seine philosophischen Mitstreiter die Bemühungen ihrer Kollegen von den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen mit einem Rätselraten über so Dinge wie "welche Farbe hat ein Schwan?" verwechseln. Die Theorie "Alle Raben sind weiß" ließe sich in der Tat per "empirischer Kontrolle" widerlegen, wenn ein Wissenschaftler solche Theorien aufstellen würde. Nur tut das eben niemand.); "verifiziert" wird sie freilich auch nicht; denn Theorien gelten in den Kreisen dieser Wissenschaftstheoretiker als "All-Aussagen" also nicht als Urteile über den Schwan, sondern über alle Schwäne zu allen Zeiten und Orten. Eine Unterscheidung, die vor allem den einen wissenschaftstheoretischen Vorzug hat: solche "All-Aussagen" lassen sich per definitionem nicht "endgültig bestätigen", weil es ja schlechterdings unmöglich ist, alle empirischen Instanzen der kühnen Mutmaßung "Alle Schwäne sind weiß" zu überprüfen. So ist die Theorie eben "vorläufig bestätigt", wenn sie aus dem TÜV der Empirie kommt, bleibt eben, was sie sein soll: eine Hypothese; "falsifiziert" soll sie freilich werden können, die Hypothese: ein schwarzer Schwan und die ganze Schwanentheorie wäre widerlegt. Bloß: jahrzehntelange "empirische Kontrollen" haben es nicht zustande gebracht, auch nur einer geisteswissenschaftlichen Theorie so den Garaus zu machen, dass sie aus dem Kanon respektabler möglicher Lehrmeinungen ausgeschieden wäre. Das liegt daran, dass die einschlägigen Wissenschaftstheoretiker ihr Desinteresse, eine verkehrte "Hypothese" widerlegen zu wollen, ausgebaut haben zu einem ganzen Instrumentarium an Überlebensstrategien von Theorien als Hypothesen: da lässt sich die "Beobachtung" mit haargenau den gleichen Argumenten aus Prinzip bezweifeln wie die Theorie, die sie "überprüft"; da wird der hypothetische Charakter der "All-Aussage" zum positiven Bestandteil der theoretischen Aussage gemacht, so dass dann Wahrscheinlichkeitsaussagen, middle range theories u.v.a.m. die Welt der Wissenschaft bevölkern. Resultat der "empirischen Kontrolle" ist also die Hypothese, inhaltlich ungeschoren und in ihrer hypothetischen Form enorm bestätigt. Unter dem Schein einer "Überprüfung an der Empirie" wird dem Geist ein Reich der Freiheit zugewiesen, in dem er so viele wie verrückte Theorien aufstellen darf, da der Anspruch auf Gültigkeit im prinzipiellen Zweifel gut aufgehoben ist. "Alle Sicherheiten in der Erkenntnis sind selbstfabriziert und damit für die Erfassung der Wirklichkeit wertlos. Das heißt: Wir können uns stets Gewissheit verschaffen, indem wir irgendwelche Bestandteile unserer Überzeugung durch Dogmatisierung gegen jede mögliche Kritik immunisieren und sie damit gegen das Risiko des Scheiterns absichern." (Albert) So kommt umgekehrt jeder Gedanke, der darauf beharrt, er liege richtig, von vornherein in den Verruf der Hybris. Wer diesen Vorwurf erhebt, macht sich sehr klein, verlangt dafür aber auch von allen anderen, diese Pose nachzuahmen; und das im Namen des Wissens, das ganz gewiss nur hypothetisch zu haben ist. "Das ist doch nur eine Hypothese!" wird so zum wuchtigen Argument, dem niemand Sachfremdheit vorrechnet. Es ist Usus geworden an den Universitäten und anderswo, mit diesem Universaleinwand, zu dessen Beherrschung keiner Wissenschaftstheorie studiert zu haben braucht, um ungeliebte und nicht geteilte Gedanken zurückzuweisen. Und in den seltenen Fällen, wo die angemahnte Moral des Relativierens nicht beherzigt wird, kommt regelmäßig der Vorwurf auf, das sei Gewalt.

Die Selbstgerechtigkeit des Zweifels als Gebot der Toleranz

Das Argument der Hypothese leistet einiges: Die Forderung nach Relativierung ist der Angriff auf jede Aussage und bewerkstelligt gerade damit eine Selbstbezichtigung, die den Angriff auf die eigene Theorie verbietet. Der grundsätzliche Zweifel an richtigen Resultaten des Denkens, dient ja nicht dazu, die eigene Theorie zu verwerfen, sondern ihr eine Berechtigung zu verschaffen: Sie ist genauso möglich wie jede andere. Unter dem Mantel der Wissenschaftlichkeit versteckt sich die Benimmregel für die Geisteswissenschaft. Jeder Denker hat sich so aufzuführen, dass er die prinzipielle Vorläufigkeit und damit Harmlosigkeit seiner Urteile durch den Hinweis auf seine Subjektivität unterstreicht. Das Denken wird dazu aufgefordert, sich ständig als bloße Vermutung über die Realität zu betrachten. Ausgerechnet der, der für die Gültigkeit seiner Argumente nichts weiter beansprucht als die Argumentation selbst, wird der Gewalt bezichtigt. Der Hypothesengedanke ist seiner Natur nach nichts weiter als der Schein der Begründung für das moralische Gebot der Toleranz in der Wissenschaft. Dieses aus der Sphäre der Politik bekannte Gebot demokratischer Machtausübung, das konfligierenden Interessen freiwillige Selbst-beschränkung abfordert, ist auch die angemessene Verfahrensweise einer demokratischen Wissenschaft, welche mit ihrer Unterordnung unter den von den Zuständigen bewerkstelligten praktischen Lauf der Welt sehr zufrieden ist. Wer diese Unterordnung unter die "Kontrolle durch die Empirie" schon rein formell nicht betreibt, dessen Argumente werden als Missbrauch der Wissenschaft ins Reich der politischen Ideologie verwiesen. Jemand, der diese Tour aber beherzigt, hat seine Freiheiten im Kommentar, den er dem Weltgeschehen unterlegt. Darin, in demokratischer Wissenschaft, ist die Nutzanwendung der Hypothese sehr unhypothetisch.

 


contradictio - 2006