1.
Der Historiker beschwört die Bedeutsamkeit der
Vergangenheit: Das begründet sein Fach! „Vergangen, vergessen,
vorüber‘‘: diese gelungene Alliteration aus dem Schatzkästlein
traditionellen deutschen Liedgutes mag ein Historiker gar nicht
leiden. Er sieht die Sache bekanntlich genau andersherum: Alles, was
vergangen und vorüber ist, interessiert ihn brennend, damit es auch
ja nicht in Vergessenheit gerate! Fragt sich nur, was da nicht in
Vergessenheit geraten soll? Die Vergangenheit: das ist alles, was
einmal war. Das wissenschaftliche Interesse gilt demnach gar keinem
bestimmten Gegenstand; vielmehr kürt ein höchst äußerlicher
Gesichtspunkt, nämlich der, dass (irgend)etwas vorbei ist, die
diversesten Sachen zum Objekt dieser Forschungsdisziplin: Hauptsache
- und darin sind sie eins -, sie liegen ein kleineres oder größeres
Stück vor dem Heute. Die Dreifelderwirt-schaft und die
kapitalistische Industrialisierung, die Kultur der Merowinger und
der Barbaren, die Überschreitung des Rubikon und der 2. Weltkrieg,
der Islam im 17. Jhd. und die Kreuzzüge, Karl der Kahle und Iwan der
Schreckliche, Sklaven und Lohnarbeiter, auch alte Handschriften,
Wappen, Münzen und Siegel (weshalb so erlesene Hilfswissenschaften
wie Paläographie, Heraldik, Numismatik und Sphragistik sich zum
festen Bestandteil eines Geschichtsstudiums zählen dürfen) - all das
und noch viel mehr ist Gegenstand der Geschichtswissenschaft: ein
Gegenstand, der keinen anderen Zusammenhang hat, als den eines
Neben- bzw. Nacheinanders in der Zeit! Als abseitiges Orchideenfach,
das alte facts, Scherben und Bräuche ausbuddelt, die bestenfalls für
Kreuzworträtselfans, Quizkandi-daten und andere Hobby-Byzantinisten
interessant wären, will die Geschichtswissenschaft gleichwohl nicht
gelten. Vielmehr soll die akribische Kenntnisnahme der Geschichte
einen nicht zu knappen Erkenntniswert haben! Diese Überzeugung lebt
von der Behauptung, dass Vergangenheit keineswegs etwas nicht mehr
Gültiges ist - dann wäre es in der Tat reines Hobby (so ähnlich wie
Briefmarkensammeln), im Staub der Geschichte herumzuturnen! -,
sondern höchste Bedeut-samkeit besitze: für „den Menschen‘‘, damit
er keine „geschichtslosen Generationen‘‘ hervorbringe, für das
Heute, um aus dem Gestern vielleicht Lehren zu ziehen. (Zur
plakativen Unterstreichung dieser Bedeutung schreiben Historiker
dann Bücher mit so unmittelbar einleuchtenden Titeln wie „Blick
zurück in die Zukunft‘‘ oder „Die Aktualität des Mittelalters‘‘...)
2.
Den Begriff einer Sache pflegt ein Historiker
stets mit ihrer Herkunft zu verwechseln: Das ist sein Beruf! Das
Grund-, Haupt- und Oberdogma für alle Grund-, Haupt- und
Oberseminare im Fach Geschichte steht damit fest: „Die Dinge sind
geschichtlich bedingt. Sie sind an ihre Zeit gebunden. Wenn man
darum die Gegenwart begreifen will, muss man sie aus ihrer Herkunft
begreifen.‘‘ (Nipperdey, für alle). Zwischen dem, was eine Sache
ist, und dem, woher sie kommt, will ein geschichtsbeflissener
Begreifer ganz offensichtlich nicht unterscheiden: den Begriff des
Entstandenen setzt er kurzerhand in eins mit dessen Entstehen.
Nicht, dass ein Historiker keine „Was“- Fragen mehr stellen würde,
aber er beantwortet sie in sehr eigentümlicher Form. Zum Beispiel
so: „Der 1. Weltkrieg ist tief in den Traditionen des 19. und des
beginnenden 20. Jahrhunderts verwurzelt‘‘ - oder so: „In diesem
Sinne ist Auschwitz eine Reaktion auf den Archipel Gulag. Hier ist
die tiefste Wurzel von Hitlers extremsten Handlungsimpulsen zu
suchen‘‘. Was weiß man über den 1. Weltkrieg, wenn man weiß, dass er
angeblich lange Wurzeln hatte; was weiß man über Hitlers
Ausmerzungsaktion gegen die Juden, wenn man diese als angebliche
Kopie einer anderswo vorausgegangenen „asiatischen Tat‘‘
betrachtet? Nichts - außer eben, dass diese Ereignisse Folgen von
etwas anderem (allerdings ebenfalls unerklärten Gegebenheiten)
darstellen sollen. Die Frage nach den Zwecken, welche beispielsweise
die kriegführenden Parteien gegen-einander verfolgten oder die Nazis
an den Juden exekutierten, tritt damit zurück hinter das endlose
Knüpfen von Beziehungsketten zwischen lauter „Voraussetzungen‘‘ und
deren angeblichen „Wirk-ungen‘‘.
3.
Also sucht der Historiker nach
„Bedingungen‘‘, „Triebfedern‘‘ und deren „Auslösern‘‘ - und findet
sie auch noch: Das ist seine Leistung! Aus dem Gebot, die Dinge
seien „nur aus ihrer Herkunft zu begreifen‘‘, spricht die
methodische Absicht, der völlig beziehungslosen Verknüpfung: „erst
ist dies passiert - dann jenes - und dann - und dann...‚‘ einen
höheren Stellenwert als den eines schieren Nach-einanders zukommen
zu lassen: erklären sollen die Dinge sich aus einem inneren
Zusammenhang von Vorher und Nachher. Den Beweis für diesen
postulierten Zusammenhang, der in bzw. hinter allem und jedem wirke
und für immer und überall Gültigkeit besitze, treten die Historiker
zuallererst mittels einer Formel an, die so plausibel klingt, wie
sie trügerisch ist: ohne Vorher kein Nachher! Immerhin: Wer wollte
leugnen, dass es viel Vorher vor den Nachhers gegeben hat?
Und - Wahnsinn! - jedes Vorher hat
seinerseits ein Vorher gehabt, ist also Vorher und Nachher,
Bedingung und Bedingtes, zugleich! Wäre unsere Neuzeit ohne das
Mittelalter überhaupt möglich gewesen? Allerdings verraten die
richtiggehend beschwörende Rhetorik dieser Fragestellungen, die
Eindringlichkeit der Ohne-Nicht-Logik (man stelle sich nur vor: ohne
Vergangenheit stünden wir echt im Hemd da) und ihre todernst
gemeinten Sophistereien (nach dem Kindermuster: was wäre nur aus mir
geworden, wenn meine Eltern sich niemals getroffen hätten?!) es fast
schon von selbst: die rückwärtige Beschwörung eines Nicht-Ohne gibt
nie und nimmer den Schluss her, dann habe umgekehrt auch der Zustand
vorher den Zustand nachher notwendig gemacht!
Genau darin aber besteht die
gedankliche Leistung dieser Wissen-schaft. Ihr Geschäft ist es,
solcherlei Zusammenhänge einer irgendwie gearteten inneren
Notwendigkeit an jedwedem Material zu entdecken: und irgendwie
schaffen sie es auch immer, die Dinge in den verschiedensten
Kategorien als „geschichtlich bedingte‘‘ dingfest und namhaft zu
machen.: - Sie entblöden sich nicht, am laufenden Meter pure
Voraussetzungen anzuschleppen, ohne die die betreffenden Ereignisse
zwar sicherlich so nicht gelaufen wären (ohne Erfindung des Gewehrs
hätte Erzherzog Franz Ferdinand nicht erschossen werden können; ohne
Eisenbahn hätte Hitler nicht so viele Wahlkreise abklappern, „also‘‘
nicht so viele Leute in so kurzer Zeit „verführen‘‘ können ...) -
mit deren Gegebenheit selbige Tatbestände aber noch lange nicht
passieren mussten! Oder seit wann ruft das schiere Vorhandensein
eines Mittels einen Zweck ins Leben? Macht aber nichts. Etwas
komplizierter ausgedrückt reicht dieser Gedanke für eine
Seminararbeit mit dem Titel „Zum Verhältnis von Waffentechnik und
kriegerischen Verwicklungen 1903-1918‘‘ oder für eine Promotion über
das Thema „Der Fortschritt des modernen Verkehrswesens unter
besonderer Berücksichtigung der Entwicklung des zentralistischen
Verwaltungsstaates zum Totalitarismus‘‘ nämlich allemal aus: nichts
leichter als das, die prätendierte Beziehungshaftigkeit durch das
In-Beziehung-Setzen mittels so unschuldiger Wörtchen wie „und‘‘ und
„von‘‘ und „zu‘‘ zu belegen (oder vielleicht sogar wieder zu
verwerfen)!
Nun will zwar kein Historiker
ernsthaft behaupten, der 1. Weltkrieg habe wegen der Erfindung des
Schießpulvers stattgefunden und Hitler sei wegen des erweiterten
Schienennetzes der Reichsbahn ans Ruder gekommen, aber so ganz ohne
eben auch wieder nicht: und so mausert sich ein Fakt immerhin zu
einem „Faktor‘‘ der Geschichte - zu einem unter anderen, versteht
sich. - So nämlich geht das Ideal der historischen Erklärung: für
sich genommen soll zwar keiner der „Faktoren‘‘ erklärungsfähig sein,
zusammengenommen sollen diese Einzelteile aber so etwas wie ein
geschlossenes Bild ergeben, das Einblick in den Gang der Geschichte
gewähre. Die Addition von Voraussetzungen pflegt sich für den
Historiker klammheimlich zu einer neuen Qualität der Geschichte
aufzuschwingen - zu einer „Lage‘‘, angesichts der der Chronist und
sein Publikum schon viel verständlicher finden, dass es kam, wie
es gekommen ist. Da erfährt man dann beispielsweise über die „Lage‘‘
vor dem 1. Weltkrieg, dass die internationale Situation dermaßen
„verworren‘‘ war, dass die „Spannungen zwischen den Großmächten‘‘
sich letztendlich auf dem Schlachtfeld „entladen‘‘ mussten; oder sie
war derart von „Großmacht-streben‘‘ dominiert, dass man „die Lage‘‘
einfach als rundum „kriegs-trächtig‘‘ beschreiben muss. Dass die
Erklärung eines Ereignisses aus einem Schwangergehen mit sich selbst
überhaupt als die respektable Angabe eines Grundes durchgeht,
erklärt sich seinerseits nur aus dem verkehrten Bedürfnis, das die
Historikerzunft umtreibt: in der festen Absicht, die Notwendigkeit
des Eintretens eines Geschehens - und zwar ganz getrennt von einem
Zweck, der selbiges bewerkstelligte! - beweisen zu wollen,
vermittelt sie mit der Diagnose „Kriegsträchtigkeit‘‘ das höchst
begriffslose Verständnis, dass ein Krieg wohl auf der Tagesordnung
stand - na dann! Alles, was passierte, gilt somit als Eigenschaft
der Zeit, in der es passierte. Subjekte des Krieges sind damit auch
nicht die agierenden Staaten und deren kriegsträchtige Zwecke,
sondern ein ominöses Wesen des beginnenden 20. Jahrhunderts, das
einen starken „Hang‘‘ zum Militarismus auswies und so der damaligen
„Staatenkonstellation‘‘ seinen Stempel aufdrückte ...
Ganz so, als sei dieser Krieg so
etwas wie eine fix und fertig gebügelte Klamotte, die im
Kleiderschrank der Geschichte herumhängt und nur noch darauf warte,
dass endlich einer die Tür aufmacht, wendet das Interesse der
Geschichtsschreiber sich stets und konsequent der Frage zu, welche
Umstände ihn denn ausgelöst haben. Da kennen sie sich aus: das
Attentat auf Franz Ferdinand in Sarajewo am 28.6.1914, das
seinerseits nur zur „Bedingung‘‘ werden konnte, weil das damalige
„internationale Klima‘‘ ein brodelndes Fass war, das nur den
berühmten Tropfen brauchte, um es zum Überlaufen zu bringen, was
wiederum daher rührte, dass die Staaten sich schon längere Zeit
(seit 1823? 1871? 1907?) nicht mehr vertrugen ...
So kommt es, dass das Erfinden von
Metaphern in der Geschichts-wissenschaft als Argument gilt. Die
Legenden vom „Ausbruch‘‘, aber auch von der „mutwilligen
Entfesselung‘‘ des 1. Weltkriegs, verdanken sich exakt dieser Logik:
das Bild, dass ein Krieg ausbricht wie ein Gewitter, wie das
Abziehbild, dass die damaligen Staatenlenker statt Frieden zu halten
mit dem Feuer gespielt haben, sind nichts als vornehme Ausdrücke für
die Weigerung, sich überhaupt die Frage vorzulegen, wie und warum
Krieg Mittel der „imperialistischen‘‘ Politik ist. - Die jeweils
zitierten „Lagen‘‘ sind ihrerseits auch nicht einfach vom Himmel
gefallen, sondern selber nochmals „geschichtlich bedingt‘‘: durch
Traditionen, deren Erben es nicht fertig gebracht haben sollen, sich
ihnen zu entziehen, weil durch und durch geprägt. Wurde Österreich
etwa nicht vom Christentum geprägt; und standen die Bürger vor dem
1. Weltkrieg nicht unter dem Einfluss eines „autoritären
Gehorsamsbegriffes‘‘? Mag sein. Nur begründet sich daraus erneut
keinerlei Zwangsläufigkeit dessen, was danach kam: wenn das
Christentum ein mittlerweile biblisches Alter erreicht hat, und die
Untertanen im 19. und 20. Jahrhundert ihren Regenten und
Kriegs-herren brav gefolgt sind, dann folgt daraus eben bloß, dass
offenbar damals wie heute Gründe existier(t)en, welche die Leute
Trost in Religion suchen ließen, dass damals wie heute
Herrschaftsverhältnisse existier(t)en, welche für ihre Vorhaben
reichlich gehorsame Mitmacher benötigten -- aber niemals, dass das
Heute wegen des Damals so aussieht, wie es aussieht! Das Christentum
hat zwar eine ellenlange Tradition, deswegen existiert es aber heute
noch lange nicht wegen der Tradition, sondern wegen eines aktuellen
Nutzens für das Heute; Unterwerfung unter die Vorschriften seiner
Machthaber mag zwar ebenfalls aus Gewohnheit geschehen, - nur ist
das keine Erklärung, sondern verlangt nach einer: und die kann nur
in der Beantwortung der Frage liegen, welchen Nutzen ihres Gehorsams
sich die Leute für ihr heutiges Fortkommen einbilden. Dass Beten,
Arbeiten und Gehorchen so unwiderstehliche Tätigkeiten seien, weil‘s
„schon immer so‘‘ war, ist zwar ein frommer Spruch, der ebenso
unverblümt wie argumentlos auf Nachahmung pocht - ob er aber befolgt
wird, liegt ganz an denen, an die er adressiert ist! Irgendwo
logisch: Wird die Tradition akzeptiert, so existiert sie fort; wenn
nicht, ist sie alter Käse -- von einer wirkenden Kraft namens
„Tradition‘‘ keine Spur!
4.
In all diesen Fällen konstruiert
die Geschichtswissenschaft willkürliche Zusammenhänge, behauptet
diese als Grund und Folge und entdeckt darin alle möglichen
„Motoren‘‘ und „Triebfedern‘‘ der Geschichte: sodann braucht sie
ihre Geistersubjekte wie das „Wesen einer Epoche‘‘ oder die
„Traditionen des Abendlandes‘‘, die sich in der Chronik der
laufenden Ereignisse „niederschlagen‘‘, nur noch so geschickt in
ihre Geschichten hineinzuschmuggeln, dass schon beim Erzählen ein
Hauch von Folgerichtigkeit entsteht. Und einzig und allein dieses
Verfahren ist es, das in die Erzählungen, Berichte und Anekdoten der
Geschichts-wissenschaft überhaupt erst das Beurteilende, den Schein
von Durch-blick, hineinbringt. Anders gesagt: Geistige Spannung in
ihr Fach bringt die Geschichtswissenschaft durch die hemmungslose
Verwendung der Modalverben „können‘‘ und „müssen‘‘!
Insofern ist die
Geschichtswissenschaft die reine Anbetung erfolg-reicher Gewalt: Das
ist ihre Moral! Der Grundsatz, dass eingetreten ist, was aus
irgendwelchen höheren Notwendigkeiten eintreten musste, verleiht
allem und jedem, was historisch existierte, das Kompliment eines
tieferen Existenzrechts, weil und solange es existierte: insofern
kann sich jede „historische Kraft‘‘, die sich in einem
innenpolitischen Machtkampf oder in einem Krieg durchgesetzt hat und
fortan in der Lage ist, einen Haufen Fakten zu setzen, der
prinzipiellen Verehrung durch die Geschichtswissenschaft sicher
sein. Wer gewonnen hat, hat zu Recht gewonnen; wer verloren hat, hat
zu Recht verloren - und das nicht etwa, weil der Chronist der
Zeitenläufe voreingenommene Partei wäre, die einem der Kontrahenten
möglichst viel Erfolg an den Hals wünschte, sondern weil „die
Bedingungen‘‘ nun mal so waren: die Zeit war reif für den Aufstieg
der einen und den Abgang der anderen Macht. So beweist jedes neue
Resultat die Zeitgemäßheit des sich Durch-setzenden bzw. die
„objektive‘‘ Überholtheit des Abgelösten. Und jeder kennt es, wie
sich mittels dieses Verfahrens die Weltgeschichte bis in die
Attribute hinein fast schon wie von selbst schreibt. Z.B. das alte
Rom: Erst war es blühend, hatte eine hochstehende
Kultur, moderne cives, eine imposante Flotte und
überzeugende Rhetoriker („ceterum censeo...‘‘), mit denen sich
jeder Krieg gewinnen ließ; dann begann der Verfall,
die Bürger wurden dekadent, der Kaiser war wahnsinnig,
die Schlachten gingen reihenweise verloren, bis das
dem Untergang geweihte Riesenreich zu Staub verfiel - die
kursiv gesetzten Worte sind das Argument und ergeben zusammengesetzt
einen Sinnspruch, der das gedankliche Kriterium der
Geschichtswissenschaft gar trefflich zu charakterisieren vermag:
„Wer Erfolg hat in der Zeit, der sei mit Recht gebenedeit! Dem
Verlierer aber sagen wir: der Zahn der Zeit, er nagt an Dir!‘‘
(überliefert, nach Tacitus, dem Jüngeren) Nichts belegt diese pure
Anbetung der größeren Gewalt besser als das Dogma der historischen
Analyse, man brauche Abstand zum Beurteilen und es sei nur von
Vorteil, „das Ende zu kennen‘‘ (wieder Nipperdey). Klar wie
Erbsensuppe, warum: man muss ja erst abwarten, wer gewinnt - um sich
ein geschichtswissenschaftlich gesichertes (!) Urteil zu bilden!
Diese Sorte Urteil grenzt sich von moralischen Alltagskriterien wie
„gut‘‘ und „böse‘‘ also insofern ab, als sie „die Sache‘‘ einzig und
allein danach einschätzt, ob sie ein „gutes‘‘ oder ein „böses Ende‘‘
genommen hat: das Vorhaben selbst ist ihr demnach sowohl theoretisch
als auch moralisch schnurzpiepegal. Ob ein Erfolg „verdient‘‘ ist,
entscheidet der historische Analytiker nicht nach politischer
Symphathie, sondern pragmatisch: jeder Erfolg ist berechtigt, weil
eingetreten. Selbst so hässliche Ereignisse wie etwa die russische
Revolution, die sich ganz gewiss der intimen Feindschaft westlicher
Historiker erfreuen, kommen in den „Genuss‘‘ des Prädikats
„historisch notwendig‘‘, denn auch sie sind nun mal passiert ...
5.
Doch gibt es da noch die Kehrseite
dieser Logik. Die gehört einerseits sowieso in den Werkzeugkasten
des Historikers: Da seine 1001 erschwindelten Notwendigkeiten ja
keine Bestimmungen der Sache sind, sondern sich stets aus einem
Wenn-Dann-Determinismus begründen, kann er auch mal umgekehrt so
tun, als sei „die Geschichte‘‘ tabula rasa (wenn nicht - wie dann?)
und die Frage aufwerfen, wie es sich 44 vor Chr. oder 1914 wohl
gefügt hätte, wenn eine oder siebzehn „Bedingungen‘‘ zufällig
ausgeblieben wären. Klare Antwort: ganz anders, oder zumindest ein
bisschen. Anwendbar ist diese Spekulation auf eine doch bloß
relative Notwendigkeit der Ereignisse wiederum auf jedes historische
Datum; andererseits aber bietet sie unseren Geschichtsschreibern
(welcher politischen Couleur auch immer) die hervorragende
Gelegenheit, aus ihrem parteilichen Kopf doch keine Mördergrube
machen zu müssen: und so kommen mit Vorliebe die ungeliebten Könige,
Führer oder Epochen in den Genuss der unschuldigen Frage, ob das
denn wirklich nötig gewesen sei! Wäre Lenin nicht im plombierten
Waggon nach Russland gekommen und wären die liberalen Kräfte nicht
so zerstritten gewesen ..; hätten die Leute sich von dem
„Anstreicher‘‘ aus Österreich nicht so blenden lassen und hätten die
demokratischen Parteien Weimars mehr Härte gezeigt und hätte Hitler
keinen Zweifrontenkrieg geführt... - dann, ja dann wäre alles ganz
anders gekommen und „wir‘‘ hätten die ganze Scheiße nicht am Hals
gehabt!
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