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Die Lage der arbeitenden Klasse in Europa

Von • Apr 21st, 2012 • Kategorie: Allgemein

Die Lage der arbeitenden Klasse in Europa:

Eine kurze Bilanz zum „Tag der Arbeit“

 

1.

In Europa gibt es eine Staatsschuldenkrise. Dazu kommt es, wenn internationale Finanzinvestoren aufhören, einem Staat frisches Geld zu leihen. Sie stellen fest, dass sich dieser Staat für sie nicht mehr lohnt, dass er auf Dauer nicht für den Zinsdienst garantieren kann, den er ihnen für ihre Kredite schuldet. Und wenn so ein Staat nicht dafür taugt, Banken und Investmentfonds reich zu machen, investieren die eben nicht mehr in seinen Haushalt. Dann ist der Staat bankrott und kann seinen Laden zu machen. Dass sich ein Staat mitsamt dem ganzen gesellschaftlichen Leben, das an ihm hängt, fürs Finanzkapital rentiert, ist offenbar seine erste Existenzbedingung.

Wenn er seinen Gläubigern keine Zinsen mehr abliefern kann, war alles sinnlose Verschwendung und „über die Verhältnisse leben“, was er unternommen und eingerichtet hat.

 

2.

Was ist los, wenn ein Staat die Zinsen auf seine Schulden nicht mehr bezahlen kann? Dann reichen die Einnahmen aus Steuern nicht für die Ausgaben, die die Regierung nötig findet, plus die fälligen Zinsen.

Dass die Einnahmen für die Ausgaben nicht reichen, war aber ja schon der Grund dafür, dass der Staat überhaupt Schulden macht. Wenn ihm die Geldgeber nicht mehr gestatten, weitere, neue Schulden zu machen, glauben sie eben nicht mehr daran, dass die staatliche Bewirtschaftung der Gesellschaft eines Tages schon die tollen Steueraufkommen hervorbringen wird, die die Schulden zu zuverlässigen, dauerhaft sprudelnden Geldquellen machen. Das heißt, sie glauben ihrem staatlichen Schuldner nicht mehr, dass ihm gelingen wird, was offenbar der Zweck seiner ganzen Schuldenwirtschaft ist: Seine Gesellschaft zu einer Profitmaschine herzurichten, die ihm durch das Wachstum der Wirtschaft und die Einkommen und Gewinne, die sie erzeugt, Jahr für Jahr wachsende Steueraufkommen abwirft. Wenn ein Staat pleite ist, dann holt das Kapital auf seinem Territorium nicht genug Profit aus seinen Arbeitskräften heraus, dann hat es nicht genug Überschüsse zum Investieren erwirtschaftet und wächst nicht in dem Maß, das nötig wäre, um die Staatsausgaben zur Verwaltung der Gesellschaft und zur Förderung der Wirtschaft zu rechtfertigen.

3.

Überall in Europa ist klar, dass es für Länder, die vom Misstrauen ihrer Gläubiger bedroht sind, nichts Wichtigeres gibt, als schleunigst das Vertrauen der Finanzmärkte zurück zu gewinnen. Und wie geht das?

Es geht über die Anpassung der Staatsausgaben an die viel zu kleinen Einnahmen, so dass die den Zinsdienst wieder hergeben, von dem alles abhängt. Und wie kürzt ein Staat seine Ausgaben – ohne seine Einnahmen in gleichem Maß auch zu vermindern, also möglichst ohne die Wirtschaft zu schädigen, die ja ohnehin zu wenig abwirft und zu wenig wächst und mehr wachsen soll? Er spart am Leben des Volkes.

In Griechenland wird inzwischen gehungert; die Renten und der mickrige staatliche Mindestlohn, an dem auch die anderen Löhne im Land orientiert sind, werden um mehr als 20% gekürzt. Im öffentlichen Dienst werden Zehntausende entlassen, weitere sollen folgen; die Arbeitslosigkeit liegt auf einem Dritt-Welt-Niveau von 25%. In Spanien, Portugal etc. ist es nicht besser. Dort ist eine ganze, oft gut ausgebildete Generation junger Leute ohne Job, ohne Mittel und ohne Perspektive. Mit Renten, Gesundheitsleistungen und Löhnen wird ähnlich verfahren wie in Griechenland, zugleich werden die verarmten Bürger mit immer höheren Steuern und öffentlichen Gebühren für die Staatskasse in Anspruch genommen.

Unabhängig davon, ob sich dadurch die Finanzlage der betroffenen Staaten bessert, schafft die demonstrative Rücksichtslosigkeit gegenüber den Nöten und Bedürfnissen des gemeinen Volkes schon erste Anflüge von neuem Vertrauen an den Finanzmärkten: Regierungen, die ihr Volk so konsequent verarmen, müssen auf dem richtigen Weg sein. Die Armut des Volkes ist der Rettungsanker des Staates.

 

4.

Tatsächlich bessert sich die Finanzlage der europäischen Krisenländer durch die radikalen Sparprogramme nicht. Die Staatsausgaben sinken zwar, die Einnahmen aber noch mehr, weil das staatliche Sparen die Wirtschaftstätigkeit im Land abwürgt. Also – so der Schluss der europäischen Politik – brauchen die Länder außer der Haushaltskonsolidierung, bei der sie nicht nachlassen dürfen, auch noch Wachstum. Und wie erzeugt ein Staat Kapitalwachstum, ohne dass er große neue Ausgaben tätigt, Wachstum, das nichts kosten darf?

Schon wieder durch die Verbilligung des Volkes – nun in der Rolle des Kostenfaktors Arbeit: Die deutsche Kanzlerin buchstabiert es den europäischen Partnern vor: Sie sollen gefälligst Arbeitsmarktreformen machen, wie sie Deutschland schon gemacht hat: Sie sollen den Kündigungsschutz demontieren, „verkrustete Arbeitsmärkte aufbrechen“, d.h. geregelte Arbeitsverhältnisse abschaffen und durch Leiharbeit und befristete Verträge ersetzen.

Überhaupt brauchen Frankreich, Italien und eigentlich alle dringend die Übernahme der Hartz-Gesetze von Kanzler Schröder: Die damals eingeführte Arbeitslosenunterstützung am Existenzminimum (Hartz-IV) und die Erpressung, auch die noch zu streichen, hat die Arbeitslosen gezwungen, jede Arbeit zu jedem Preis anzunehmen und einen wunderbaren Niedriglohnsektor geschaffen. Ein klares Bekenntnis: Die Rettung Europas braucht mehr Kapitalwachstum durch mehr Armut der Arbeiterklasse.

5.

Deutschland ist die große Ausnahme. In der Krise spielt es die Rolle des Vorbilds und des Zuchtmeisters für die Nachbarstaaten. Es hat alles richtig gemacht – es genießt höchsten Kredit an den Finanzmärkten, seine Wirtschaft wächst und wirft rekordmäßige Gewinne ab, es gibt Millionen neuer Arbeitsplätze.

Und wodurch? Dadurch dass Deutschland seiner Arbeiterschaft schon ein halbes Jahrzehnt vor der großen Finanzkrise die Verarmung aufgezwungen hat, die die anderen jetzt nachholen müssen. Die Nötigung der Arbeitslosen, sich für alles herzugeben, hat einen Niedriglohnsektor wachsen lassen, in dem nun fast ein Viertel der Beschäftigten für weniger als 9 Euro in der Stunde arbeiten. Dank der beständigen Bedrohung durch Hartz-IV und die Konkurrenz der Billiglöhne sind dann auch die Löhne für normale, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze ein ganzes Jahrzehnt lang real gesunken. Politik, Wirtschaft und Medien in Deutschland schämen sich nicht dafür, das Lebensniveau der Arbeiterklasse nach unten reformiert zu haben, sie sind stolz darauf: Heute schaffen in Deutschland mehr Menschen mehr Stunden denn je, und das für weniger Geld als viele Jahrzehnte davor. Das ist ein Erfolg! Damit nämlich hat die deutsche Wirtschaft ihre Wettbewerbsfähigkeit wieder gewonnen!

Auch für das vorbildliche Deutschland gilt: Der Reichtum der Nation beruht auf der Armut der Masse ihrer Bürger.

http://www.gs-marburg.de/neuigkeiten/2012-05-15lagederarbeitendenklasse.htm

Dazu ein Literaturtipp:

„Das Proletariat“

http://www.gs-marburg.de/Proletariatbuch.jpg

http://www.gegenstandpunkt.com/vlg/prol/prolix.htm

 

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